Die zweite Genesis

Das Bremer Paula Modersohn-Becker Museum in der Böttcherstraße präsentiert die Ausstellung „Antoni Gaudí – Lyrik des Raums“. Eine Reise auf den Spuren des katalanischen Baumeisters

Aus Barcelona Jens Fischer

Barcelona, 2000-jährige Geschichte, kultureller Reichtum, heute die bedeutendste iberische Industriestadt. Und alles ist in angenehm milder Bewegung. Das polyglott unverkrampfte Miteinander auf den prächtigen Rambles und im Bar-Dschungel des Barrio Gótico – immer umspielt von einer mediterran milden Brise. Das kräftige Sonnenlicht tunkt die Stadt in sanft changierende Farbigkeit. Prachtvoll erglühen so die fließenden Strukturen der kauzigen Häuser, mit denen Antoni Plàcid Gaudí i Cornet dem Vier-Millionen-Menschen-Organismus originelle Attraktionen eingepflanzt hat. Mit einer Formensprache, die auf Ecken verzichtet: ein Universum aus Parabeln, Ellipsen und Hyperbeln.

In Wellenlinien und grünlich schillernd quillt die Fassade der Casa Battló dem Betrachter entgegen – wie die wogende Oberfläche des Meeres. Die Treppengeländer der Stadtvilla sehen aus wie die Wirbelsäule eines Dinosauriers. Im Pilz-Design wurde der Kamin verputzt. Balustraden im Walknochen-Design, Dächer wie Drachenkörper, abstrakte Malereien, die das Palisadengewebe der Haut imitieren.

Auf der Casa Milá hat Gaudí sogar die Schornsteine verkleidet zu einer maskenhaften Alien-Armee, Entlüftungsschächte gestaltet wie Sahnebaiser-Häubchen, Treppendächer wie Insektenflügel. Verstrebungen erblühen aus dem Boden. Die Fassade streckt sich in geschwungenen Linien majestätisch empor – als wäre es eine Wüstenlandschaft. Die Decken sind verputzt im Stile dünenartiger Verwehungen. Handgeschmiedetes, aber trotzdem locker geflochtenes Eisenblech windet sich um die vorspringenden Wölbungen, Terrassen und Fenster. Dahinter verborgen sind kurvenreiche Wohnbereiche, die sich um Innenhöfe ranken. Licht und Luft erhalten ungehinderten Zugang, umspielen ergonomisch geformtes Gestühl und der Handanatomie angepasste Türgriffe.

Bei Gaudí wuchern vegetabile und zoomorphe Elemente symbolstark empor. Die Kräfte der organischen Welt sollen architektonische Form werden. Der Baumeister verstand seine Gebäude als bewohnbare Skulpturen und als lebendige Wesen aus Stein.

„Das hat schon etwas Verrücktes“, meint Rainer Stamm, Chef der Bremer Kunstsammlungen Böttcherstraße, „Gaudí ist kunstgeschichtlich ohne Vorbild und ohne Nachfolger – in der europäischen Architektur einfach ohne Vergleich“. Ein Grund, warum er mit „Lyrik des Raumes“ im Paula Modersohn-Becker Museum die bundesweit erste umfassende Ausstellung von 60 Gaudí-Originalen zeigt, ergänzt durch Baumodelle und historische Dokumente der Gaudí-Rezeption. „Der Gesamtkunstwerker im Gesamtkunstwerk Böttcherstraße“, so die Werbung. „Gaudí als der große Anreger des Expressionismus von Bernhard Hoetgers Böttcherstraßenarchitektur“, so die Idee des Kurators Daniel Schreiber.

Bremen, 1200-jährige Geschichte, kultureller Reichtum, heute das industriell unbedeutendste Bundesland. Alles wirkt erstarrt. Obwohl die Luft orkanartig die Frisuren zerstrubbelt. Leben unter freiem Himmel zu Herbstbeginn? Fehlanzeige. Das Licht: diffus grau. Und die angesprochene Formensprache der Böttcherstraße: schwer, fest, kantig, düster. Backsteinfassaden, die sich in kühl abstrakter Ornamentik dem Betrachter entgegendrängen, starres Geklüft mit pathetisch glänzender Symbolik einer „germanophilen Privatmythologie“, wie Stamm im Ausstellungskatalog schreibt. Die „Kulissenarchitektur“ als „konstruierte Erlebniswelt“ einer „Propagandastraße“ sei letztlich nur „ein Marketing-Vehikel der Kaffee HAG“ gewesen. Dessen Chef, Ludwig Roselius, hatte den Bau in Auftrag gegeben und bezahlt. Architektur: eine innige Umarmung von Kunst und Kommerz, die wesenlose Gebilde aus Stein gebiert.

Wo ähneln sich mittelmeerische Gotik und norddeutscher Expressionismus – wo begegnen sich Gaudí und Hoetger, deren Biografien keine Schnittmengen aufweisen? Beider Kunst huldigt, so ist festzuhalten, dem unbeschwerten Spiel fantastischer Eingebungen, die als unverblümte Absage an den Zweckrationalismus zu verstehen sind und vollends der gewinnbringenden touristischen Vermarktung unterworfen wurden.

In Bremen sind tatsächlich gaudíeske Fliesenmosaike und Schornsteine zu entdecken, die gebogene Linie spielt bei der Böttcherstraßengestaltung durchaus eine Rolle. Bevorzugt werden in Bremen und Barcelona erdgeschöpfte Materialien und lebhafte Oberflächentexturen, angestrebt wird eine Art Gesamtkunstwerk: Gaudí und Hoetger hatten alles unter Kontrolle – vom Türgriff über Fliesen, Möbel, Raumgrundrisse, Wandgemälde bis hin zur Dachkonstruktion. Mit ihrer geschwätzigen Architektur sind beide in Verruf geraten: als Zuckerbäcker und Mietkünstler.

Unvollendet blieb Gaudís Hauptwerk, die Sagrada Família, eine Votivkirche zu Ehren der Heiligen Familie. Ein gewaltiger Torso von ungebrocher Suggestivkraft. Die traditionelle gotische Fensterform wird in einem Spiralsystem aufgelöst, die Fassade aus überlappenden Dreiecken von naturalistischem Schmuck überwuchert. Mit den geplanten 18 Türmen, dem noch nicht begonnenen 170 Meter hohen Vieringsturm, dem fünfschiffigen Lang- und dreischiffigen Querhaus, ihrem Kranz von Kapellen, Sakristeien, Werkstätten, Schulungsgebäuden, Museum und Kreuzgängen definiert sich das Bauwerk als das größte Kirchenprojekt der Moderne. Ihm hat sich Gaudí die letzen acht Jahre seines Lebens fast ausschließlich gewidmet. 2007 soll das Gotteshaus katholisch geweiht werden und 10.000 Gläubigen Platz bieten.

Ohne Gott ging bei Gaudí gar nichts. Gerade auch, wenn seine Werke in romantischer Naivität daherkommen. Im Parc Güell stehen Viadukte aus grob behauenem, porigem Stein, getragen von schrägen Säulen, die aus dem Boden wachsen wie Baumstämme mit gemeißelter Rinde.

Wie auch in der Sagrada Família. Dort verzweigen sich die Säulenstämme zu dschungeligem Geäst mit Blättern und Früchten. Es wächst, blüht, wuchert und gedeiht fast tropisch. Licht, Luft, Bewegung sind spürbar.

Für den selbst ernannten „Baumeister Gottes“ wird die Ästhetik der Biologie zur Materialisation der katholischen Ideologie. Gaudís Architektur soll auf den verweisen, der Flora und Fauna hervorgebracht hat. Das Schönste ist das Natürlichste ist das Göttliche.

Daher habe Architektur, laut Gaudí, nur die stilbildenden Urformen wahrer Baukunst, also die Schöpfung Gottes nachzubilden. So soll durch die Wipfel der Kirche nicht nur von Gott gesandtes Tageslicht fallen, sondern des Nachts auch von innen erleuchtet werden. Als Manifestation der Worte Christi: „Ich bin das Licht der Welt.“

Der Mangel an rechten Winkeln, Symmetrie und Geraden hat einen ähnlichen Grund. „Die gerade Linie ist menschlich“, so Joan Bassegoda i Nonell, Inhaber des Königlichen Gaudí-Lehrstuhls der Technischen Hochschule Barcelona, „die geschwungenen Linie steht für Gott.“ Eckig an Gaudís Werken sei daher bestenfalls der Grundriss. „Gaudi war kein Künstler, führte nur das Werk Gottes fort: eine zweite Genesis aus Mörtel und Stein.“ Architektur – als Fortsetzung des Katholizismus mit anderen Mitteln. Die geometrischen Gesetze der Statik haben nur dienende Funktion.

Was Gaudí nicht wusste, dass ein gewisser Rudolf Steiner parallel mit recht ähnlichen Ergebnissen versuchte, „sich einzuleben in das organisch schlafende Prinzip der Natur“. Und wofür Gaudí nun wirklich nichts kann, ist ein gewisser Friedensreich Hundertwasser mit seinen kunterbunten Stillosigkeiten.

Rund ein Dutzend Gebäude hat Gaudí in Barcelona hinterlassen, die man heutzutage nicht Gott, eher dem Modernisme, der katalanischen Spielart des Jugendstils zuordnet. Dem Weltkulturerbe sowieso. Popstar Gaudí: der Touristenmagnet. Designer unendlicher T-Shirts, Kalender, Tassen, Seidentücher. Als jemand, der radikal von der Norm abweicht, übt Gaudí auf die Menschen des Massenzeitalters einen großen Reiz aus. Eine halbe Million Besucher verzeichnet jährlich die Casa Milá, die – wie die Bremer Böttcherstraße – heute der örtlichen Sparkasse gehört. Vier Millionen Gaudí-Fans schauen bei der Sagrada Família pro Jahr vorbei.

Damit sich Gaudís Popularität noch weiter steigert, betreibt die private Sagrada Famíla-Stiftung seit 2002 die Seligsprechung des Künstlers durch den Papst. Für den künftigen Sankt Antoni, wie er bereits auf Katalanisch genannt wird, haben sich Zeugen gefunden, die nach seiner Anrufung von schwerer Krankheit genesen sein wollen – eine Bedingung für den posthumen Ehrentitel.

Mit ihm ließen sich auch die Einnahmen für den Kirchenbau erhöhen. Derzeit kann Jordi Bonet, der 79-jährige Gaudí unserer Zeit und seit 20 Jahren bauleitender Architekt der Sagrada Família, monatlich eine Million Euro an Spenden verbauen. Staatliche Unterstützung gebe es keine, fügt er hinzu. 100 Arbeiter würden derzeit beschäftigt. Gaudí-Archäologen seien dabei, die 10.000 Fragmente des Sagrada-Gipsmodells (1:25) von Gaudí zusammenzupuzzeln. 1936, zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, war es zerstört worden. Alle Pläne Gaudís sind in der gebrandschatzten Bauherrenhütte verloren gegangen.

Gaudí war aus der Zeit gefallen. Wo andernorts schon mit Stahl und Beton gebaut wurde, konfrontierte er noch Steine mit Meißeln, so dass nirgendwo glatte, kalte, sondern überall aufgeraute Oberflächen dominieren. Während kunstgeschichtlich nach der Sezessionsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts immer expressivere Wege gesucht wurden, den wahren Grund des Seins auszuloten, blieb Gaudí bei der Feier des Ornaments. Kühn aber waren seine parabolischen Gewölbebögen als Raum- und Dachkonstruktionen. Le Corbusier war begeistert von dem dahingewellten Schulgebäude an der Sagrada.

Strebebögen des seit der Gotik gebräuchlichen Pfeilersystems, die den Gewölbedruck abzuleiten hatten, empfand Gaudí immer als fantasielose Hilfskonstruktion. Er eliminierte sie zugunsten flacher, schlicht gemauerte Gewölbe aus zugespitzten Rundbögen, die mit Metallstäben dermaßen verstärkt sind, dass sie den geringen Horizontalschub der Gewölbe leicht ableiten können. So war Gaudí in der Raumgestaltung frei, brauchte keine Pfeiler und tragenden Wände mehr. Hatte Platz für Licht, Luft, Bewegung. Vielleicht haben diese Backsteinschalengewölbe die heutigen Stahlbetonschalen vorweggenommen. „Das Entziffern von Gaudís Bauprinzipien war so schwierig wie das von Hieroglyphen“, erzählt Baumeister Bonet, „fünf Jahre meines Lebens habe ich dafür gebraucht“.

Weiterhin als Modernist einzuschätzen ist Gaudí wegen seiner Lust, Lehm und Holz zu verwenden, Regenwasser in Zisternen zu sammeln und Baustoffe zu recyceln. Vor der Verschrottung hat er die Gitter seiner schmiedeeisernen Arbeiten bewahrt. Die Mosaike, die als surrealistisch abstrakte Collagen die Gebäude verzieren, sind zusammengestellt aus Glasscherben, zerbrochenem Geschirr und Ausschussware katalanischer Keramikwerkstätten.

Die Bremer Ausstellung vermittelt in Ansätzen die lichte, luftige, raumgreifende Architektur und Philosophie Gaudís. Auf engstem Raum serviert man erlesene Appetithäppchen, die vor allem eins machen: Lust auf Barcelona.

„Antoni Gaudí – Lyrik des Raums“, bis 12. Dezember, Kunstsammlungen Böttcherstraße Bremen, Di-So 11 bis 18 Uhr