: „Schmutz ist gut“
Benny Härlin
Vom Jesuitenschüler zum Hausbesetzer und Ökoaktivisten: Benny Härlin hat schon immer gekämpft. Anfang der Achtzigerjahre erschien sein Buch über die Potsdamer Straße, ein Sittenbild des damaligen Westberlin. Ein Jahr später wurde der Herausgeber der „Radikal“ wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verfolgt. Doch sein Kampf für die Pressefreiheit brachte ihn statt in den Knast ins Europaparlament. Heute kämpft der 46-Jährige gegen genetisch verunreinigtes Saatgut. Ein Saubermann ist er dennoch nicht geworden. Ein Gespräch über den Schmutz und seine Grenzen
Interview PLUTONIA PLARRE und UWE RADA
taz: Wann waren Sie zuletzt in der Potsdamer Straße?
Benny Härlin: Letzte Woche.
Hat sich viel verändert, seitdem Sie 1983 mit Michael Sontheimer die Sozialgeschichte diese Straße geschrieben haben?
Ja. Für mich persönlich ist sie langweilig geworden, nicht mehr der Ort, an dem ich mich heimisch fühle. Nach der Potse bin ich über die Karl-Marx-Allee in Friedrichshain und die coole Mitte jetzt in Charlottenburg gelandet.
Weil es in Charlottenburg sauberer ist?
Nein. Schmutz ist gut. Auch Charlottenburg ist nicht aseptisch. Für mich hat die Potse einfach kein besonderes Flair mehr. Meine Potse war eine Westberliner Straße.
Was heißt das: Schmutz ist gut?
Erstens: Nur wer im Schmutz aufwächst, hat genug Widerstandskraft. Das stärkt das Immunsystem. Zweitens: Es ist auch gut, wenn Schmutz nicht weggedrängt wird. Ich finde zum Beispiel den Schmutz unangenehm, wie er in Washington auftaucht. Im Regierungsviertel ist alles pikobello, und drei Blocks weiter herrscht die pure Verzweiflung. Schmutz muss überall sein und auch überall in Grenzen gehalten werden.
Spricht sich der Koordinator der Kampagne „Save our seeds“ hier für verschmutztes Saatgut aus?
Verschmutztes Saatgut, das ist nicht mein Begriff. Sie meinen gentechnisch verunreinigtes Saatgut?
Dann nennen wir es so.
Das Problem beim gentechnisch veränderten Saatgut ist, dass es sich selbst vermehrt. Das macht die Sache so problematisch. Wenn ich im Saatgut Gentechnik drinhabe, das aber dem Bauern nicht sage, dann muss er das anbauen. Das ist Zwangsanbau, der Gentechnik-Stalinismus der Industrie, der im Moment auch noch von der EU-Kommission unterstützt wird. Aber wir haben da Hoffnung. Wir kämpfen.
Gerade haben Sie einen wichtigen Erfolg in Brüssel erzielt. Worum ging es?
Es geht darum, ob Bauern, auch Biobauern, in Zukunft Gentechnik anbauen müssen, weil ihnen die Saatgutkonzerne nicht mehr sagen, ob Gentechnik drin ist in dem, was sie verkaufen. Das wollte die EU-Kommission heute durchdrücken. Das ist erst mal verhindert worden. Aber es gibt noch keine Entscheidung in der Sache selbst.
Hat Sie schon einmal einer Ihrer Gegner einen Saubermann genannt?
Nein.
Ihre Kampagne fordert sauberes Saatgut.
Das hat nichts mit Sagrotan zu tun. Achttausend Jahre Kulturgeschichte, und nichts Geringeres ist das Saatgut, kann man sich nicht einfach über Nacht von Monsanto und Bayer gentechnisch versauen lassen. Es geht um Saatgutreinheit und um Ehrlichkeit. Dass man ehrlich sagt, was drin ist. Wenn Sie so wollen, ist das Sauberkeit in der Kommunikation. In dem Sinne bin ich gern ein Saubermann.
Die ehemaligen Westberliner kennen Benny Härlin als Angeklagten im damaligen „Radikal“-Prozess und als Europaabgeordneten der Grünen, der sich in Brüssel der Strafe entzog.
Um hier gleich mal die Sauberkeit der Kommunikation zu wahren: Ich habe mich meiner Strafe nicht entzogen. Die Verurteilung wurde vom Bundesgerichtshof aufgehoben, das Verfahren eingestellt. Wir haben den Prozess gewonnen.
Sie haben damals Bekennerschreiben abgedruckt. Für die Bundesanwaltschaft war das Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Was für die Bundesanwaltschaft Unterstützung war, war für mich ein Teil der Pressefreiheit. Mein Argument war: Es muss möglich sein, dass diese Leute sich äußern, weil wir nur so mit ihnen die Auseinandersetzung öffentlich führen können.
Es scheint, dass Sie das heute anders sehen.
Ich habe mich schon damals gefragt, ob ich genauso argumentieren würde, wenn es um faschistische Gewalt ginge, ob Neonazis das Recht haben sollen, öffentlich zu begründen, warum sie jüdische Friedhöfe schänden oder Ausländer zusammenschlagen. Ich denke heute, es gibt auch Grenzen des veröffentlichbaren Schmutzes in einer Gesellschaft.
Sauberkeit spielte in der linksradikalen Szene eine wichtige Rolle. In der Oranienstraße gab es „Kübelaktionen“ mit Fäkalien gegen Yuppies und andere, von denen man den Kiez säubern wollte.
Das war die autonome Sagrotan-Fraktion, die gesagt hat: Diese Art von Lebensgenuss widerspricht der reinen Linie. Das war eine ganz üble Art von Saubermännern und -frauen. Die haben bestimmte Leute aus dem Kiez verjagt, weil sie nicht ertragen wollten, dass es verschiedene Lebensformen gibt. Das war wirklich große Scheiße.
Gab es die Sagrotan-Fraktion nicht auf beiden Seiten der Barrikade? Klaus Landowsky hat einmal gefordert, den „Sozialpalast“ in Schöneberg zu sprengen, weil er ein sozialer Schandfleck sei.
Wenn ich mir den Müll angucke, den Landowsky angerichtet hat oder die Ratten, die uns heute die Kindergartenplätze kosten, weil sie das Geld in der Bankgesellschaft verjubelt haben, dann trifft ihn das selbst. Aber auch da nützt Desinfektion wenig. Worum es geht, ist Offenheit. Dem Mann hat keiner auf die Finger geschaut, zwanzig Jahre lang. Da hat sich natürlich eine Menge Dreck angesammelt bei Hempels unter dem Regierungssofa.
Trifft das auch auf die Kindheit des Benny Härlin zu? Sind Sie aseptisch aufgewachsen, oder haben Sie im Sandkasten Dreck gefressen?
Ich hatte das Glück, in meiner Kindheit im Dreck wühlen zu können, in einem großen Garten auf dem Lande. In unserem Haus gab es nur Jod für die aufgeschlagenen Knie.
Aber vor dem Essen Händewaschen.
Ja, schon. Das gehörte sich einfach so. Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen war.
Wir waren auf jeden Fall nicht auf einer Jesuitenschule.
Sankt Blasien im Schwarzald, ja.
Wie haben es die Jesuiten mit der Sauberkeit gehalten?
Das große Thema da war eigentlich die Angst vor der Sexualität. Das war ein reines Jungsinternat. Wir sollten nur das liebe Jesulein lieben, und Onanie war schmutzig und verboten und musste in den Beichtstuhl. Jeden Donnerstag, wenn ich da rein musste, hatte ich Schweißausbrüche, bis ich es über meine Lippen brachte. Und der Pfaffe hat’s genossen.
Leiden Sie an den Spätfolgen?
Ich könnte unverklemmter sein, aber es hat mich auch rebellisch gemacht.
Auch gegen die Putzpläne in den WGs später?
Das war immer ein Riesenproblem. Das hatte aber auch mit dem Alter zu tun. Zwischen 18 und 28 hat man Grundsatzfragen gestellt. Zum Beispiel die, ob man einen Putzplan überhaupt aufstellen soll.
Weil er im Verdacht stand, konterrevolutionär zu sein?
Weil es deprimierend war, wenn er nicht eingehalten wurde. Ich war da keine besondere Leuchte. Heute habe ich zu meinem Minimum gefunden.
Eine letzte Bekenntnisfrage. Pinkeln – im Sitzen oder im Stehen?
Am besten ist es, im Knien zu pinkeln. Kniend pinkelt heißt: Man braucht nicht die Hose runter lassen wie im Sitzen. Das macht die Männer so schutzlos. Hose runter und mit nacktem Arsch auf dem Klo sitzen, das entspricht nicht der Natur des Mannes. Der kann ja schon in der nächsten Minute angegriffen werden. Aber im Knien pinkeln, da spritzt es nicht raus, aber man kann trotzdem die Hose anbehalten.
Wir sind beim Thema Ökologie. Wie sind sie darauf gekommen? War das damals kein Widerspruch? Auf der einen Seite die Revolution, auf der andern die Umwelt?
Für mich war das eine große Geisteswende, bei den AKW-Demos und am Bohrloch 1004. Der Vorstellung, erst erobern wir den Staat, dann machen wir alles besser, konnte ich schon damals nicht mehr folgen. Ich glaube an das Primat der Ökologie. Nach den Prinzipien, die sich daraus ableiten, versuche ich heute eher zu handeln als nach Klassenkampfkonzepten.
Ist das nicht ein Rückzug aus der Politik?
Es gibt auch eine generelle ökologische Haltung in der Politik. Die ist mehr als Einkaufen im Ökoladen und technischer Umweltschutz. Sie ist auch eine Vision. Und sie hat Grundprinzipien wie Vielfalt, Gleichgewicht, Lebendigkeit, Vorsorge, planetares Denken und eine kritische Haltung gegenüber der menschlichen Technosphäre und der gerade angesagten Wissenschaft im Lichte der Jahrtausende der Evolution …
… was man alles unter dem Stichwort Nachhaltigkeit zusammenfassen kann.
Richtig. Und das sind für mich politische Begriffe.
Das hört sich ein bisschen nach einem Plädoyer für den Verbraucherschutz als Thema der Zukunft an.
Ich mag den Begriff Verbraucherschutz eigentlich nicht. Wir sind alle Verbraucher. Aber wenn wir von Verbrauchern sprechen, meinen wir immer die anderen. Nein, wir sind Bürger, die Waren gegenüber ebenso kritisch sein sollten wie gegenüber Politikern. Je mehr sinnlose, minderwertige, schädliche Produkte mir untergejubelt werden sollen, desto wichtiger ist eine unabhängige Instanz, die dafür sorgt, dass zumindest gewisse Wahrheiten über diese Produkte nicht übertüncht werden können. Die Konzerne fürchten nichts mehr als schlechtes Image beim Verbraucher.
Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Müll produziert wird, während der Ruf nach Saubermännern immer lauter wird. Wie erklären Sie sich das?
Das ganze Sauberkeitssyndrom ist eine Paranoia. Die Angst vor dem Schmutz ist immer ganz stark verbunden mit der Angst vor dem unbekannten, unkontrollierbaren Leben. Und vor dem Sterben natürlich, wenn wir alle wieder zu Erde werden.
Haben Sie das mal Herrn Strieder mit seiner Kampagne „sauberes Berlin“ gesagt?
Die Gelegenheit ergab sich bisher nicht.
Mit Heinrich Lummer haben Sie gesprochen, damals, als er 1981 als CDU-Innensenator die Potsdamer Straße von den Hausbesetzern säubern wollte.
Herr Lummer ist ein ehrenwerter Schmutzfink. Dem kann man nun wirklich nicht vorwerfen, dass er ein Saubermann wäre. Lummer hatte immer einen Hang zum Halbmilieu. Ehrlich gesagt, sind mir solche Leute sympathischer. Die wissen sich wenigstens im Schmutz zu bewegen.