: Panik, Politik, Popel, Pyjama
In Frank Castorfs neuem Streich „Forever Young“ geht es vor allem darum, den eigenen Volksbühnen-Bauchnabel filmisch zu dokumentieren, der allerdings zurzeit kosmologische Dimensionen annimmt
von ESTHER SLEVOGT
Auch Lolitas altern. Zwar sehen sie dann immer noch nicht wie Norma Desmond aus und auch nicht unbedingt wie Tennessee Williams’ alternde Diva Alexandra del Lago in diesem leicht verblichenen Südstaatendrama von 1959. Aber schließlich heißt der Abend, von dem die Rede ist, auch gar nicht „Süßer Vogel Jugend“, sondern handelt nur davon. Auf der Bühne wird Castorf-like „frei nach“ gespielt. Nur dass die alternde Filmdiva im vorliegenden Fall wie Kathrin Angerer aussieht, die irrlichternde Kindfrau unzähliger Castorf-Inszenierungen, macht Sinn. Natürlich ist sie viel zu jung. Trotzdem sieht das Alter in ihrem jungen Gesicht bedrohlich aus. Vielleicht auch, weil man den Vogel Jugend im Augenblick seines Davonfliegens beobachten kann.
Ansonsten ist das Drama erkenntnistheoretisch nicht besonders ergiebig, auch wenn sich die Dramaturgie wie immer große Mühe gibt. Der Plot ist schwül-symbolistischer Blödsinn: Just am Fest der Auferstehung, Ostersonntag nämlich, kehrt Wayne in seine kleine Heimatstadt zurück. Dort allerdings ist man ihm nicht sehr gewogen und plant seine schnellstmögliche Kastration. Einst nämlich hat er Heavenly (Laura Tonke), die junge Tochter des örtlichen Provinzdiktators Boss Finley (Volker Spengler), mit einer Geschlechtskrankheit infiziert, die nur per Totaloperation zu kurieren war. Eine hanebüchene dramatische Konstruktion wie diese schreit natürlich nach Rache, und die Castorf-Family lässt sich nicht lumpen. Es wird geblödelt, gekalauert und gealbert, dass sich die Balken biegen. Gern würde man sich als Zuschauer gelegentlich diskusiv an die Theoriebrocken andocken, die im Zusammenhang mit der Aufführung verbreitet wurden. Zum Beispiel irgendwas vom eigenen weißen Arsch begreifen. Vom untergehenden Privileg des unbegrenzten Konsums. Oder auch den pornografischen Dimensionen der Filmprojektionen von Jan Speckenbach, in der selbst jene Teile der Handlung auf einer Leinwand sichtbar werden, die sich in den frontal nicht einsehbaren Berreichen der Bühne abspielen. Doch statt Erkenntnis breitet sich der Verdacht aus, dass hier bloß noch der eigene Volksbühnen-Bauchnabel filmisch dokumentiert wird, der allerdings kosmologische Dimensionen annimmt.
Am 15. Juni hatte „Forever Young“ bereits während der Wiener Festwochen Premiere. Jetzt ist Castorfs ganz persönlicher Sunset Boulevard am Originalschauplatz angelangt. Denn Bert Neumanns von sonnengelben Plastikplanen eingerahmte traurige Tropen sind samt Bambuscontainer, Pool und Palmen nur Tarnung. In Wahrheit spielt hier die Volksbühne ihr eigenes Drama: alles erreicht – und was nun? Die alte Diva langweilt sich. Denn für immer jung, das fordert seinen Preis; und wer nicht altert, entwickelt sich nicht weiter. Natürlich langweilt sich die Volksbühne (ihre Zuschauer inklusive) auf hohem Niveau. Mit einem wunderbar selbstironischen Wuttke zum Beispiel. Doch satt macht dieser Abend deshalb noch lange nicht.
Auf den ersten Blick sieht alles aus wie immer: Aus Presseerklärung und Programmbuch quellen die erwähnten schicken Diskurse, zu deren unvergleichlichen Finessen es gehört, alles und jedes irgendwie bedeutungsvoll (weil politisch) wirken zu lassen. Kein Stoff, der sich nicht durch diese Waschanlage drehen ließe. Und hinterher sieht alles gleich aus.
Dieses Virus wirkt ja inzwischen längst volksbühnenübergreifend. Unter gut klingenden ideologischen Schlagwörtern laufen auch anderswo längst die Theater in der Volksbühnenspur. Von Maxim-Gorki-Theater bis zum neuen Hebbel-Theater wird inzwischen eifrig die Masche kopiert: Kunst und Verbrechen, Panik, Politik, Popel, Pyjama.
Jetzt, wo die Kopisten also überhand nehmen, das Volksbühnenprinzip sich inflationär (und nicht nur in Berlin) in der Theaterlandschaft ausbreitet, wie die Theaterverdrossenheit insgesamt, da blickt man umso sehnsüchtiger ins Mutterhaus aller Theaterrevolutionen am Rosa-Luxemburg-Platz. Doch was sieht man da: Der süße Vogel Jugend ist weggeflogen.
2., 4. und 7. 11., jeweils 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz