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Archiv-Artikel

Sture Schwermut

28 Liebeslieder und Jubel: The Magnetic Fields haben in der Passionskirche ihr erstes Konzert in Berlin bestritten. Dabei bestieg der Kopf der Band, Sänger und Songschreiber Stephin Merritt, sogar die Kanzel der Passionskirche

Wer gerne unbeachtet in dunklen Ecken sitzt, auf den muss grelle Bühnenbeleuchtung wirken wie eine Strafe Gottes. So jedenfalls wird es am Donnerstagabend dem amerikanischen Songschreiber Stephin Merritt gegangen sein, als er mit seiner Band The Magnetic Fields in der Kreuzberger Passionskirche gastierte. Bekannt dafür, seine zarten, meist traurig gestimmten Lovesongs in dunklen Schwulenbars zu komponieren, unbeeindruckt von dem dort üblichen Disco-Stampf, blinzelte er zu Beginn seines ersten Berliner Konzerts irritiert in die Scheinwerfer und bat darum, doch ein wenig am Dimmer zu drehen.

Von der Statur her eher Jimmy Somerville, stimmlich allerdings ein sonorer Brummbär wie Johnny Cash, brachte Merritt seine Lieder mit klassischem Instrumentarium auf die Bühne – Klavier, Gitarre, Cello und Ukulele. Das passte hervorragend zur Passionskirche, und dass Merritt neben den Magnetic Fields Bandprojekte wie Future Bible Heroes oder The Gothic Archies unterhält, auch das schien zur Räumlichkeit zu passen – zumindest vom Namen her.

Dennoch wird dem Kettenraucher Merritt die Passionskirche wie eine weitere Prüfung Gottes vorgekommen sein: Da reiste er nun schon zu einem Konzert nach Berlin, und dann musste er ausgerechnet dort spielen, wo Zigaretten noch verbotener sind als in den Bars, in denen er in New York verkehrt. Wenigstens konnte er mit seiner Ukulele auf einem Barhocker Platz nehmen, direkt unter der Kanzel und der Aufschrift „Das Wort Gottes“.

Er startete dann mit Songs seines bereits zum Klassiker erklärten Albums „69 Love Songs“, das Publikum wippte sofort begeistert mit, und beim zehnten Song bestieg er dann spontan die Kanzel, um von dort zu verkünden, dass er sich einen teuflischen Zwilling – einen „Evil Twin“ – wünsche. Zu mehr Theater ließ er sich an diesem Abend allerdings nicht hinreißen. Gitarrist John Woo und Cellist Sam Davol verrichteten ihre Arbeit akkurat, aber gänzlich ohne erkennbare Anteilnahme, so dass Pianistin Claudia Gonson sich umso stärker einmischte: Als Merritts Sidekick sang sie nicht nur einige Songs mit, zwischen den Songs versuchte sie auch das, was ihr Boss nach der Kanzelnummer an Spritzigkeit nicht mehr bot, mit lockerem Palaver wettzumachen. Davon mochte man halten, was man wollte – es täuschte allerdings eine Weile darüber hinweg, dass es selbst für einen Ausnahme-Songschreiber wie Merritt schwierig ist, mit nichts weiter als vier Akustikinstrumenten, ohne Rhythmusgruppe und mit einer begrenzten Auswahl spielbarer Mollakkorde ein rundum fesselndes Konzert zu bestreiten.

So ebbte die Aufmerksamkeit des Publikum etwas ab, Teenager fingen an zu tuscheln, Biertrinker drängten in Richtung Toilette, nicht ohne dabei reihenweise Flaschen zu Boden scheppern zu lassen, hier und da leuchteten Handydisplays auf. Merritt ließ sich nicht beirren: Dieselbe konzeptuelle Strenge, die ihn für „69 Love Songs“ exakt 69 Liebeslieder komponieren ließ und die auf dem vor kurzem erschienenen Nachfolger „i“ jeden Songtitel mit eben diesem Buchstaben beginnen ließ, führte in der Passionskirche zu einer zwar nicht unberührenden, aber doch etwas sturköpfig wirkenden Schwermut.

Erst nach dem 23. Song, nachdem sich Merritt aus seinem Pulli geschält und mit dem darunter verborgenen T-Shirt für Lacher gesorgt hatte – es zeigte ein Schwein von hinten –, hing ihm das Publikum wieder an den Lippen: „Papa Was a Rodeo“, ein herzerweichender Countrysong über einen One-Night-Stand zwischen zwei Truckern. Noch zwei kurze Stücke – „It’s Only Time“ und „I Die“ – , dann hatte Merritt immerhin 28 Songs gespielt, der Jubel toste ihm ungebrochen entgegen, er schien ihn allerdings eher über sich ergehen zu lassen als dabei irgendwie glücklicher auszusehen. Vermutlich rief bereits die Nikotinsucht, er verdrückte sich jedenfalls in die Sakristei und überließ das dankbare Abschiedswinken seiner Kollegin Gonson.

Die Traube von Fans, die sich daraufhin vor dem Magnetic-Fields-Tourbus postierte – zusammen mit anderen Nikotinjunkies, die nun endlich wieder an ihren Lebensrettern saugen durften –, wartete dann gespannt darauf, Merritt beim erlösenden Anstecken seiner ersten Zigarette der Nacht beobachten zu dürfen, draußen, nach immerhin fast zwei Stunden Entzug. JAN KEDVES