: Herbst, Hartz und Höhenflüge
AUS LEIPZIG THOMAS GERLACH
Geht jetzt die Revolution weiter? Vor 15 Jahren gegen Honecker, für die individuellen Menschenrechte – jetzt gegen Schröder und Hartz IV, für die sozialen Menschenrechte wie Arbeit für alle? Thomas Rudolph saugt an seiner Pfeife. „Wenn du das so meinst …“ Er lächelt sein immer konspiratives, immer wissendes Lächeln. Der Mitorganisator der neuen Leipziger Montagsdemos, der sächsische Landeskoordinator der Wahlalternative „Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ ist zurück.
Zurück aus Berlin von der Anti-Hartz-IV-Demo am letzten Sonnabend, zurück im Leipziger Osten, vor allem aber ist Thomas Rudolph zurück an die Spitze einer neuen Bewegung, mit Demonstrationen, mit Unmut, Unterschriftenlisten, Transparenten, kurz: mit allem was dazugehört zu einem Protest, der die Herrschenden das Fürchten lehrt – oder lehren soll. So wie im Herbst 89.
Thomas Rudolph wohnt jetzt wieder unweit seiner alten Wohnung, unweit auch der Lukaskirche, die damals das Zentrum der „feindlich-negativen Kräfte“ war, wie es die Stasi nannte. Vor 15 Jahren lebte der exmatrikulierte Theologiestudent Thomas Rudolph unter ständiger Stasi-Observanz, er war der Operative Vorgang „Juris“, denn Rudolph war 1988 Mitbegründer des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“, der vermutlich konsequentesten Leipziger Oppositionsgruppe.
Die Gruppe organisierte Friedensgebete und Protestaktionen, verteilte Flugblätter und Untergrundzeitschriften, sie hielt Kontakt zu Westjournalisten und zu Oppositionellen aus Osteuropa, sie koordinierte die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, sammelte und verbreitete Informationen über Verhaftungen, ihre Mitglieder wurden selbst mehrfach verhaftet. Bevor es das Neue Forum gab stand diese Gruppe an der Spitze der Leipziger Opposition.
Dann kam der Wendeherbst, im darauf folgenden Frühjahr kam die CDU. Die Geschichten sind gedeutet, zurechtgebogen, aufgeschrieben, die Orden sind verteilt, die Museen eröffnet. Aber was macht ein Revolutionär, wenn die Revolution vorüber ist?
Thomas Rudolph raucht „Prestige“, sein dünner Vollbart ist ab, die Wangen sind glatt, dafür wächst ein üppiger Schnauzer im Gesicht. Hat sich sonst etwas verändert? Thomas Rudolph telefoniert, es geht um Busse nach Nürnberg, die Leipziger Hartz-Protestierer müssen zum nächsten Protest expediert werden, er geht im Wohnzimmer auf und ab, in der Ecke ein zusammengerolltes Transparent. Nein, nicht die Wohnung beschreiben, bat er. Warum? „Privatsache“, wirft seine Freundin ein. Gut.
Es gibt Wichtigeres. In Leipzig, in ganz Deutschland ist wieder Druck im Kessel. Und jeder Druck braucht eine Richtung, jeder Unmut einen Adressaten, sonst ist alles nur Bauch. Thomas Rudolph ist Kopf – ein Organisator, ein Telefonierer, ein Interviewgeber, ein Versammlungsregisseur, ein Strippenzieher, vielleicht ein Verschwörungstheoretiker – ganz gewiss ein Kopf.
Ein Kopf, der 15 Jahre ohne politischen Körper gelebt hat. Das ist jetzt vorbei. Zeit ist wieder knapp, Sätze klingen wieder wie Appelle: „Wir brauchen eine neue Sozialstaatspartei für den kleinen Mann, den kleinen Handwerker.“ Thomas Rudolph sitzt auf dem Sofa, Hölzer und Pfeife in der Hand, eine Ver.di-Armbinde liegt auf dem Boden. „Die rot-grüne Regierung kündigt mit Unterstützung der CDU/FDP-Mehrheit im Bundesrat das Sozialstaatsgebot auf, das wir seit 1949 haben.“
Zum zehnten Wendejubiläum war von Hartz IV noch keine Rede und Thomas Rudolph noch ganz im Gestern eingesponnen. Er bellte gelegentlich los, wenn pensionierte Kirchenobere die Vorwendezeit mit christlichem Weichzeichner retuschieren oder Stasi-Männer Absolution erschleimen wollten. Für andere war es Zeitgeschichte, für Thomas Rudolph Gegenwart.
Das ist jetzt anders. Auch sein Ordner ist geschlossen, später als andere zwar, aber umfangreicher. Rudolphs Buch, er ist einer von zwei Herausgebern, bringt es auf 1.200 Seiten. Da steckt Lebenszeit drin, Nachtwerk, ganze Jahre. Noch liegt es auf Festplatte, ein Verlag muss sich noch finden. Egal. Der Wind hat sich gedreht, es gibt Tagwerk, es geht wieder vorwärts, es riecht nach Protest. Für einen Augenblick roch es sogar nach Revolution.
Mitte März hat er einen Brief nach Nürnberg geschickt, an die gerade gegründete „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. Er wolle da mitmachen, schrieb Rudolph. Und er machte mit. Ein sächsischer Landesverband wurde gegründet. Ende August hat Thomas Rudolph durchgesetzt, dass Oskar Lafontaine auf der Leipziger Montagsdemo sprach. Da hatte Leipzig den Spontandemonstranten von Magdeburg den Rang abgelaufen. Leipzig ist wieder Hauptstadt der Empörung.
Am Abend ziehen knapp 1.000 Montagsdemonstranten durch die Innenstadt. Thomas Rudolph geht nicht mit, er ist ihnen voraus. Rudolph hatte seinen Leuten das Transparent aus der Wohnung in die Hand gedrückt. Vor dem ehemaligen Reichsgericht endet der Zug. Rudolph steht schon hinter einem Klapptisch mit Pamphleten, Sammeldose und Unterschriftenliste, Pfeife in der Hand, Pullover, Jeans, zerknautschte Lederjacke, die üblichen Utensilien. Das Mobiltelefon ist dazugekommen und die „Ordner“-Armbinde von Ver.di, die er jetzt trägt.
Er sei arbeitslos, hatte er am Vormittag gesagt. Aus den Lautsprechern scheppert das über 30 Jahre alte „Chilenische Metall“ von Renft. Die hatten wahrlich bessere Lieder. Thomas Rudolph ist jetzt 41 Jahre alt. Zwei Demonstranten stehen auf den Stufen und halten Rudolphs Transparent in die Höhe: „Nur Reiche wollen einen armen Staat“.
Jochen Lässig schließt seine Kanzlei ab. Feierabend. Die Geschäfte laufen gut, ziemlich gut sogar für einen Anwalt, der erst vor zwei Jahren eine Kanzlei gekauft hat. 1988 war Lässig auch im Arbeitskreis „Gerechtigkeit“, er studierte auch Theologie und wurde auch exmatrikuliert. Für die Staatssicherheit war er der Operative Vorgang „Trompete“.
Lässig war Musiker, ein Spieler. „Ein Anarchist“, sagen manche, die ihn von damals kennen. Schwarzer Vollbart, schwarze Locken, die Stirn vorgeschoben und immer etwas Zorniges. Apropos Renft: Lässig holte deren ehemaligen Gitarristen Cäsar mit seiner damaligen Band in die Nikolaikirche zum Friedensgebet, um den Leuten mal was anderes als Orgel zu bieten. Renft war damals schon zwölf Jahre verboten.
Im Juni 89 initiierte Lässig das Straßenmusikfestival, Motto „Freiheit mit Musik“. Bis Mittag ließ die Stasi das Treiben zwischen Markt und Thomaskirche zu, danach wurde „aufgeräumt“. Im Wendeherbst wurde Lässig einer der Sprecher des Leipziger Neuen Forum.
Und wie steht’s heute um die Musik? „Kaum, nur für den Hausgebrauch.“ Die Kanzlei, die Arbeit, wenig Zeit. Lässig kümmert sich unter anderem um Verbraucherinsolvenzen, ein Wachstumsmarkt in Ostdeutschland. Die Sache sei zwar nicht sehr ertragreich, doch „die Masse macht’s“. Lässig will expandieren, die Zeit ist günstig. Die Freude über seine Pläne kann er kaum verhehlen.
Er steuert stracks die „Ständige Vertretung“ an, schräg rüber war der Stasi-Knast, da saß Jochen Lässig auch mal drin. Am Tag zuvor sind an dieser Kneipe die Demonstranten mit ihren Fahrrädern, qualmenden Zigaretten, Trillerpfeifen vorbeigezogen und haben den Kapitalismus und Gerhard Schröder beschimpft. In der ersten Reihe trugen manche DDR-T-Shirts. Jochen Lässig trägt dunklen Anzug, graues Hemd und schwarze Schuhe, er ist neulich in die SPD eingetreten, die Haare sind kurz, das Gesicht glatt rasiert.
Nein, die Seite hat er wohl nicht gewechselt, eher die Sitzreihe. Es sei zu einer kulturellen Entfremdung zu Bündnis90/Die Grünen gekommen, deren Fraktionsvorsitzender Lässig bis 1999 im Leipziger Stadtrat war. Er hat auch das Zusammengehen von Bündnis 90 und Grünen 1993 forciert. Jetzt redet Jochen Lässig über die Vorzüge einer Volkspartei – Organisationsfähigkeit, finanzielle Möglichkeiten, Personal –, wie man über die Vorteile eines Oberklassewagens redet, verglichen mit einem Opel Kadett.
Die Grünen mit ihrer Protestkultur und Jochen Lässig – nein, das passt nicht mehr. „Obwohl ich von dorther komme. Ich habe Brandreden gehalten …, das war ja okay, es traf die richtigen Leute.“ Jochen Lässig bestellt Wein. Es traf SED und Stasi. Später Richard von Weizsäcker. Als der Bundespräsident im Oktober 1990 erstmals Leipzig und die Nikolaikirche besuchte, fragte Lässig das Staatsoberhaupt, was es denn mit dessen Beteiligung an Rüstungsgeschäften von Boehringer Ingelheim auf sich hatte, in dessen Geschäftsführung er in den 60er-Jahren gearbeitet habe? Lässig wurde das Mikro abgedreht. 1994 bekam er trotzdem das Bundesverdienstkreuz. Da studierte er schon Jura.
Das mit dem SPD-Eintritt dürfe man nicht zu hoch bewerten, sagt Jochen Lässig, der humanistische Hintergrund sei bei beiden Parteien zumindest im Osten etwa gleich. „Das politische Engagement ist jetzt abgestorben.“ Wegen der Arbeit in der Kanzlei. Nicht ganz. Bei Hartz IV läuft er zu altem Zorn auf. „Luxusprobleme“ plagten Deutschland, eine radikale Senkung der Lohnnebenkosten sei notwendig. Im Übrigen hätte man das alles schon 1990 tun müssen. Hartz IV sei jetzt eine sehr effektive Notmaßnahme zur Erhaltung des Sozialsystems. Es klingt nach: Basta! Jochen Lässig hat sich tatsächlich echauffiert.
Die Wende hat sich gelohnt, Lässig ist 42 Jahre alt, die Kanzlei wird auf sechs Anwälte und einen Steuerberater erweitert. Die Oppositionsarbeit nennt er „Spaß“. Man lebte ja nicht mehr in den finsteren 50ern. Gut, die DDR habe ihm zehn Jahre seiner Karriere gekostet, sagt er. Jochen Lässig wird das verkraften. Er entschwindet – knitterfreier Anzug, Tasche unterm Arm – in die Nacht. Thomas Rudolph hat er übrigens schon lange nicht mehr getroffen. Das dürfte wohl auch so bleiben.