: Leerstellen für Millionen
Sozialistisch träumen, kapitalistisch wiederaufbauen: Die Ausstellung „Planschrank Moskau“ zeigt in der ifa-Galerie, dass die Architektur der russischen Hauptstadt am Wandel der Zeiten gescheitert ist
von HARALD FRICKE
Der Regierungsumzug fand am 11. März 1918 statt. Nachdem die Oktoberrevolutionäre in Sankt Petersburg das zaristische Russland besiegt hatten, wurde Moskau nach gut zweihundertjähriger Unterbrechung wieder Hauptstadt. Mit dem Triumph der Sowjetmacht setzte eine bis dahin unvorstellbare Völkerwanderung ein: Die Zahl der Einwohner Moskaus wuchs von 1,5 Millionen im Jahre 1923 auf 3,5 Millionen bis Ende 1934, heute sind es über 10 Millionen.
Von einem solchen Boom dürften Berlins Stadtplaner geträumt haben, als sich Anfang der Neunzigerjahre die ersten Bauunternehmen durch Mitte baggerten. Doch für Moskau war die Entwicklung zur Megacity eine Katastrophe, so sieht es jedenfalls der Architekt Sergei Tchoban, der die Ausstellung „Planschrank Moskau“ in der ifa-Galerie konzipiert hat. Das visuelle Erscheinungsbild mag sich unter Lenin, Stalin, Tauwetter, Perestroika und den „neuen Herrschern“, wie Tchoban die neoliberale Führungselite nennt, zwar ständig verändert haben; aber in diesem Prozess der totalen Verstädterung ist auch der letzte Rest an sozialem Gefüge verloren gegangen. Moskau interessiert sich nicht für seine Bewohner, das sieht man an der Architektur. Während seit nunmehr 15 Jahren überall repräsentative Gebäude im Stil von Neoklassik, stalinistischem Empire und Soz-Monumentalismus gebaut werden, fehlt es an Ideen, um den Verkehr, die Umweltzerstörung oder den Wohnungsnotstand in den Griff zu bekommen.
„Unter solchen Bedingungen kann die Begeisterung für ,kosmetische‘ Verschönerung einzelner Gebäude, die Auferstehung der Vergangenheit nur als als ein Scherz angesehen werden“, schreibt Tchoban im Katalog. Diesen Scherz hat er in der Ausstellung mit einfachen Mitteln sichtbar gemacht: Auf fünf Zeichentischen liegen wie in einem Architekturbüro historische, utopische und aktuelle Entwürfe zu fünf Plätzen in der Stadt aus; an den Wänden hängen Zeichnungen und Pläne, die die Veränderung von Moskau innerhalb der letzten 100 Jahre dokumentieren. Dabei erinnert die Inszenierung an Installationen Ilya Kabakovs, auch wegen der wunderlichen kleinen Lenin-Büsten aus Bronze, die verstreut als Souvernirs herumstehen. Manche Figuren sind durchgetrennt und im Inneren mit Miniaturapartments ausgestattet. Aus den Denkmälern des Sozialismus ist ein Domizil für die neue Oberschicht geworden, so stellt sich Tchoban die Ironie der sowjetischen Geschichte vor.
Trotzdem geht es bei „Planschrank Moskau“ nicht um eine Karikatur der Verhältnisse. Dafür haben die fünf exemplarischen Orte viel zu hohen Symbolwert: Am Puschkinplatz etwa durfte sich die Avantgarde der 20er-Jahre mit Hochhäusern für das Zeitungswesen kreativ austoben, zumindest bei Architekturwettbewerben, für die sich der Konstruktivist El Lissitzky auf dem umgebenden Ringboulevard 1924 „Horizontale Wolkenkratzer“ ausgedacht hatte. Später wurde der Platz allerdings weiträumig für Feiertagsmärkte asphaltiert, heute ist der Verkehrsknotenpunkt eine ungebremst wuchernde Ansammlung aus Imbissbuden und Parfüm-Shops. Schlimmer noch hat es das Zentrale Haus der Künstler an der Krimuferstraße erwischt, das ab 1923 auf dem Brachgelände der ersten Landwirtschaftsausstellungen geplant wurde, zwischenzeitig für eine monströse Akademie der Wissenschaften vorgesehen war und seit den Fünfzigerjahren als dreistöckiger, fensterloser Flachdachbau am Ufer des Moskwa steht. Mit der Perestroika kam das Ende des Kunstzentrums, neue Investoren für Kultur sind ohnehin nicht in Sicht, nur eine riesige Werbetafel für Lipton-Tee.
Tchoban sieht seine Ausstellung als eine Art Schnitt durch einen gefällten Baumstamm, „an dem man anhand der Jahresringe genau Alter, Krankheiten, Freuden und Lebensetappen ablesen kann“. Dabei zeichnet sich nicht Wachstum, sondern ein erschreckender Stillstand ab: Das „Hotel Moskau“ wurde im klassizistischen Retro-Stil à la Stalin zurück in die Dreißigerjahre katapultiert, und auch das „Hotel Rossija“ hinter dem Kreml am Roten Platz ist als monumentaler Prachtbau neu verkleidet worden – außen ZK-Ästhetik, innen ganz Luxus-Lounge für Global Player.
Doch obwohl „Planschrank Moskau“ akribisch auf die urbanen Problemzonen abhebt, fehlen die Menschen. Vor lauter architektonischen Fallstudien erfährt man wenig darüber, wie es sich 2003 in Moskau lebt. Deshalb hat die Berliner Galeristin Paula Böttcher als Ergänzung ein Videoprogramm ausgewählt, das in einer abgetrennten Koje Alltag aus Sicht von zehn Künstlern zeigen soll.
Gleichwohl ist Öffentlichkeit in der zeitgenössischen russischen Kunst offenbar eher eine Spielfläche für Experimente. Der 1975 geborene Maxim Iliukhin hat eine Low-Budget-Dokumentation seiner Performance gedreht, bei der er in militärischer Tarnkleidung vergebens in das Puschkin-Museum einzudringen versucht; für „Demonstration“ haben Arseny Gutov und Dmitry Gutov von Radek Community heimlich jungen Frauen als Hommage unter den Rock gefilmt; und in Dmitry Vilenskys „Music's Power“ verwandelt sich das Publikum bei einem Konzert durch geschickte Close-ups der Kamera in Halunken, die Zigaretten in Zeitlupe rauchen.
Neben Elena Kovylinas Porträt obdachloser Kinder ist es vor allem Anton Litvin, der in den kurzen Fragmenten seines Videos „Beware of the Children“ von 1999 dem Leben auf der Straße nachgeht. Ein Hase und ein Bär aus Plastik rollen auf Bollerwagen durch die Stadt. Die Tour steuert von Schneepfütze zu Schneepfütze, an Gummistiefeln und Sperrmüll entlang. Aus der Froschperspektive ähnelt Moskau dabei einer verödeten Landschaft aus Teer und Beton. Im Off hört man noch Beavis und Butthead auf MTV blöde Witze machen – wie es in der Wohnung aussieht, in der der Fernseher läuft, erfährt man nicht. Das Private ist zu einer sozialen Leerstelle verkümmert, das hat es mit der stadtplanerisch gescheiterten Metropole gemeinsam.
Bis 4. 1. 2004, Di.–So. 14–19 Uhr, ifa-Galerie, Linienstraße 139/140. Katalog, Verlagshaus Braun, 25 Euro