: Ein Albtraum namens Leben
„Rote Ampeln habe ich nie beachtet“ – diesen Satz schrieb Fritz J. Raddatz einst in seinem Tagebuch. Und wie er stimmt! Das sieht man auch an den Erinnerungen des ehemaligen „Zeit“-Feuilletonchefs, die unter dem Titel „Unruhestifter“ erschienen sind
von KLAUS HARPPRECHT
Er fehlt in den großen Konferenzen der Zeit-Redaktion, deren Mitgliedschaft in den vergangenen Jahren jünger, vermutlich solider, vielleicht sogar seriöser geworden ist: aber da gibt es keinen mehr (unterhalb des Herausgeber-Olymps), der mit scharfem Gelächter das Quellgewölk der politischen Predigten fortblasen, keiner, der mit einem schnellen Bonmot den nackten Po unter dem Faltenwurf hochsinniger Kulturkritik vorzeigen würde. Temperament sei ein Privileg der Alten geworden, spottete Theo Sommer, der es dann und wann zuwege brachte, Fritz J. Raddatz mit lockerem Witz vom Hocker zu lachen. Oder war es Michael Naumann, der es für nötig hielt, die blässlich Braven der Equipe ein bisschen aufzuscheuchen? Oder der Autor dieser Zeilen, der in einem langen Journalistenleben nichts so sehr hassen gelernt hat wie die geduckte „Ausgewogenheit“ – darin mit Raddatz völlig einig, obschon man ihm und dem „Unruhestifter“ kaum nachsagen kann, sie seien ein Herz und eine Seele gewesen?
Raddatz ist vier Jahre jünger – kein Abstand, der allzu viel zählt, aber das täuscht: er bezeichnet einen Generationssprung. Der Memoirenschreiber war am Ende des Krieges noch keine 14. Er hatte an keinem Flakgeschütz den kleinen Helden zu spielen, musste sich von keinen Feldwebeln schinden, von keinen Leutnants (selber noch halbe Kinder) ins Feuer jagen lassen, hockte in keinem Lager, auf den Stacheldraht starrend, dieses Symbol- und Hauptprodukt des 20. Jahrhunderts. Er hat noch die Pimpfenuniform getragen, hat sich noch von den nazistischen Schreihälsen die Ohren mit Sieges- und Durchhalteparolen vollbrüllen lassen, hat (im frühreifen Alter von zwölf Jahren?) mit der älteren Schwester unter einer Decke BBC gehört, hat das Crescendo des Bombenkrieges mit all seinem Entsetzen erlitten, hat sich in der Kunst des Überlebens im Inferno der Reichsdämmerung zu Berlin, unter Russen und Amerikanern, im Schwarzhandel, im Stehlen, in jugendlicher Zuhälterei, doch auch brav im Vorgarten-Gemüseanbau geübt, hat den Vater sterben sehen, den gehassten, den Abzug der Schwester ins russische Offiziersquartier und schließlich ihre Abreise nach Paris zu windigen Verwandten, den Abmarsch der enterbten Stiefmutter namens Irmchen, die ein rothaariges Luder war und den zarten Knäbchen von elf Jahren auf Geheiß des schneidigen Papas den Koitus gelehrt hatte.
Das Drama dieser verdunkelten Jugend lässt keinen Leser gleichgültig, auch wenn die grellen Krassheiten der Erzählung von fernher an die Romanreportagen des genialisch-verlogenen Italieners Curzio Malaparte (recte: Kurt Erich Suckert) erinnert. Papa Raddatz, Direktor bei der Ufa, der sich als Oberst a. D. ausgab: keineswegs ein „hoher Offizier“ der kaiserlichen Armee, da er’s in Wahrheit nur zum Hauptmann gebracht hatte – ein teutonischer Albtraum. Man wundert sich, wie er zu einer französischen Frau gekommen sein mag, Fritzchens Mutter, die der Sohn nicht kannte, da sie nach seiner Geburt verstarb. Der Vater aber prügelte, so lesen wir, das Bübchen mit solch barbarischer Härte, „dass Lux, der Schäferhund, sich wimmernd in seine Hütte verzog; nicht selten leckte er mich, wenn ich mit blutigen Striemen zu ihm kroch“. Der Papa schlug ihn mit einer „lederumwickelten eisernen Reitpeitsche“ – gab es die denn? Der Rezensent, einst Reitersmann, hat solch ein (ganz unpraktisches) Folterinstrument niemals gesehen, selbst nicht beim Militär –, schlug ihn mit der geflochtenen Hundepeitsche, doch er ließ auch der Tochter das Haar „in memoriam der toten Frau“ schon in Kindertagen goldblond färben und trug bei der Weihnachtsbescherung das Eiserne Kreuz erster Klasse, was selbst in konservativen Kreisen eher unüblich war. Die Beihilfe dieses korrekt-reaktionären Herrn zur Schändung des Knaben durch die Stiefmutter durfte auch in dekadentesten Ufa-Kreisen als ungewöhnlich gelten – ein Skandal, den Raddatz unter Frau Maischbergers kühl prüfenden Augen jener Empörung preisgab, die sich gemeinhin gegen die Ruchlosigkeit asien- oder karibikorientierter Sextouristen oder frevelnder Priester richtet.
Wie herzlich wünschte man sich, dem Kollegen wäre jenes Lebenstrauma erspart geblieben, mehr noch: die stiefmütterliche Erfahrung hätte sich ihm auf jene ironisch-zärtliche Weise mitgeteilt, die Mario Vargas Llosa einen kleinen Roman eingab, der kein Meisterwerk ist. Oder wie dem Stiefsohn der Colette, der auch keinen bleibenden Schaden nahm. Vielleicht hätte sein Leben eine andere Wendung genommen? Zum Beispiel hätte er den französischen Pass, der ihm dank der toten Mama von den Besatzern angeboten wurde, nicht ausgeschlagen. Und er hätte sich seinem Vormund, dem „Pfaffen“ Hans-Joachim Mund, religiöser Sozialist und SED-Mitglied, hernach Mitarbeiter des ZK-Sekretariats, Fritzens erste Liebe, der DDR und den leicht verschwiemelten Hoffnungen auf ein anderes, besseres Deutschland lieber entzogen. Ihm wären das Gezerf mit dem windigen Wolfgang Harich und die Nachstellungen der Stasi, schließlich die Flucht in den Westen, ins „verschmockte Adenauer-Deutschland“ erspart geblieben. Er hätte das Pathos eines leicht verspäteten Antifaschismus dämpfen, hernach die Glut seines Antikommunismus nicht gar so mächtig auflodern lassen müssen.
Den Konjunktiv, dieses köstlichste Geschenk der Grammatik, meistert kaum einer so virtuos wie er: aber die schillernde Verführung der Nuance versagt allemal, wenn er sein lädiertes Ego zur Schau stellt, immer zu Unrecht verfolgt, fast immer verraten, selbst von seinem schizophrenen Geliebten, der denunziatorische Briefe verschickte, ehe er in den Tod ging, stets Opfer der infamsten Intrigen, oft am Abgrund des Martyriums wandelnd, obschon er sich (gottlob) niemals mehr von der Butterseite des Lebens entfernen musste, vom eleganten Haus im einstigen Hamburg 13, von der Bleibe im französischen Süden, von der Kate in Keitum, wo ihn überdies eine Grabstätte auf dem Inselfriedhof in enger Nachbarschaft Rudolf Augsteins erwartet.
Warum aber spuckt er die Namen der Berühmten, der Stars, der Großen so genussvoll über die Seiten seiner Erinnerungen wie Kinder die Kirschkerne (wer wohl am weitesten kann)? Warum hält er niemals rechtzeitig ein? Müssen wir wissen, dass sein Freund Günter Grass an der Prostata operiert wurde? Warum klebt er, beim Tod seines Autors und Freundes Hubert Fichte, dem Hinweis auf den künstlichen Darmausgang die „grausige Pointe“ an, das widerführe dem Mann, „der sich so gerne von Türken ficken ließ“? Was heißt hier „Pointe“? Welche? Wo ist sie? Warum immer der Paukenschlag zu viel, sich selber die brillantesten Passagen vermasselnd? Wenn er zum Beispiel seine zweijährige Liaison mit einer „femme du monde“ durch die Metapher summiert, die Intellektuellen im Umkreis der Millionäre und Milliardäre seien „das Salz an der Suppe“, ohne das sie nicht sein könnten. Das Salz aber sei giftig, denn sie wüssten sehr wohl, dass sie von ihren gebildeten Hofnarren verachtet würden. So weit, so bitter, vielleicht so gut. Aber dann: sie würden gebraucht wie der „Verdauungsschnaps. Wir sind der Underberg der Reichen.“ Mit diesem verhatschten Bild fällt die absurde Komik seines atemlosen Berichts von den aufreibenden Pflichten des „offiziellen Begleiters“ einer reichen Dame in sich zusammen. Man fragt sich: Warum nahm er das zwei Jahre lang auf sich? Weil die „große Welt“ lockte: heute Manhattan, morgen Paris und übermorgen, nach der Galerievisite, ein Cocktail in Venedig? Warum kann er sich’s nicht versagen, die Dame – obschon er den Namen verschweigt, weiß ihn jeder – als eine Art Monster zu decouvrieren? Rachsucht? Verletzte Eitelkeit, in der man das Leitmotiv seiner abenteuerlichen und doch so erzbürgerlichen Existenz sehen mag? Warum vergisst dieser blitzgescheite Mensch immer wieder, dass jede Konzession an eben jene Eitelkeit mit einer spontanen Gehirnverdunkelung bezahlt wird, die man instant stupidity nennen könnte?
Er schrieb in seinem Tagebuch am 3. November 1983 den hellsichtigen Satz: „Rote Ampeln habe ich nie beachtet.“ Das ist es wohl, warum Bucerius und die Gräfin Dönhoff ihrem erfolgreichsten Feuilletonchef am Ende den Stuhl unter dem Hintern fortzogen: die missratene Goethe-Anleihe bei einem satirischen Stückchen der Neuen Züricher Zeitung war die eine Ampel zu viel. Das – und nicht sein Temperament, das man bei der Zeit angeblich wie eine „geistige Geschlechtskrankheit“ fürchtete. Anders wird es auch bei Rowohlt nicht gewesen sein – überall gibt es eine Flensburger Sündenkartei, in der die roten Ampeln vermerkt sind, die wir übersehen haben: auch wenn wir keinen zu Tode fuhren (auch das kommt vor); über den Haufen schon.
Warum bei der Trauerfeier für Bucerius die Klammer-Bemerkung, ob der in seinem fahnengeschmückten Sarg „wirklich drin“ gelegen habe, „schon riechend“? Warum muss er Augstein posthum ankreiden, dass der Spiegel-Zar im Kriege Feuilletons geschrieben habe, die im Völkischen Beobachter nachgedruckt wurden? Dass er vermutlich gern „Hauptschriftleiter“ geworden wäre („ein Gründgens für kleine Leute“)? Niemals scheint ihn die Frage zu streifen, wie er sich durch die wüsten Zeiten geschlagen hätte, hätte er 1945 nicht 14, sondern 20 oder 30 Jahre gezählt. Vielleicht ist’s nicht nur der Verlust von Vater und Mutter (samt der Schändung), der dieses Buch (und ihren Autor) dem Ressentiment preisgibt: sondern der Mangel an humaner Fantasie, die moralisierende Arroganz, die Neigung zum Selbstmitleid, die melancholische Insistenz auf dem Verkanntsein. Andere, die seine Chancen, seine Leistungen, seine Erfahrungen staunend begaffen, würden womöglich sagen, dieser Mensch habe Glück gehabt, viel Glück. Allerdings war er weder Torero noch Stier und keinesfalls beides zugleich, wie er sich’s im letzten Satz gewünscht hat.
Fritz J. Raddatz: „Unruhestifter. Erinnerungen“. Propyläen-Verlag, München 2003, 495 Seiten, 24 €