: Ein dankbarer Sozialdemokrat
Im Lünener Ortsverein begann Dieter Wiefelspütz‘ Parteikarriere. Nun ist er der „zweitwichtigste“ Innenpolitiker – direkt nach Innenminister Schily
AUS LÜNEN LUTZ DEBUS
Weder Bebel noch Brandt an der Wand – die Innenarchitektur des SPD-Stadtverbandes Lünen könnte auch für eine Versicherungsniederlassung entworfen worden sein. Dieter Wiefelspütz kommt gerade von der Bürgersprechstunde geeilt, er wurde aufgehalten. Nach einem Lächeln und einem Händedruck lässt er sich in einen selbst schwingenden Ledersessel fallen. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion ist auf einen Besuch nach Hause gekommen, nach Hause in seinen Wahlkreis, in seine Heimatstadt im Nordosten des Ruhrgebietes.
„Geboren? Geboren bin ich 1946. Hier in Lünen. In Lünen-Süd. Genauer: Oberbeck.“ Aus heutiger Sicht waren es ärmliche Verhältnisse, aus denen Dieter Wiefelspütz stammt. Karg aber erfüllt, mit diesen Worten beschreibt er selbst seine Kindheit. Es habe kaum Autos gegeben, gespielt wurde auf der Straße. Der Bergmann habe damals ein Schwein, eine Ziege im Stall und ein paar Quadratmeter Weizen auf dem Acker gehabt. In solch einer Familie, solch einer Nachbarschaft sei er aufgewachsen.
Der Vater, Jahrgang 1917, kam aus dem Krieg. Nach wenigen Jahren wurde er in der jungen Bundeswehr wieder Berufssoldat, später Schweißer. Überall in Europa habe er Rohre zusammen geschweißt. Als habe er auf seltsame Weise die große, grauenhafte Reise Weltkrieg auf friedliche Weise abschließen müssen. Vor einigen Wochen verstarb er. Dieter Wiefelspütz hatte in seiner Kindheit und Jugend nur wenig von seinem Vater, der Schweißer war auf Montage.
Als 14-jähriger Realschüler begann Wiefelspütz sich für Politik zu interessieren. 50 Pfennig kostete die ZEIT, eine Mark DER SPIEGEL. Die Adenauerzeit sei stickig gewesen, schon 1962 war er leidenschaftlicher Sozialdemokrat: „Vielleicht mehr als heute“, räumt er ein. Von seinen Eltern hatte er diese Leidenschaft nicht. Die waren eher unpolitisch, vielleicht wählten sie in den Fünfzigern sogar BHE, den „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Später waren sie die vielen Auseinandersetzungen mit dem hochpolitisierten Kind einfach leid. Resigniert machten auch sie das Kreuzchen bei den Sozis.
Mit 23 bestand Wiefelspütz über den zweiten Bildungsweg sein Abitur. Seine Generation war geprägt von 68, aber er war weder Hippie noch Revoluzzer. Zur Uni ging er wie zur Schicht. Jeden Morgen um 9 Uhr saß er im Hörsaal. Für ihn war es wie ein Wunder, studieren zu können. Sein Lebensziel: Richter werden.
1972 trat er in die SPD ein. Und mit ihm machten das in jenem Jahr 150.000 Menschen. Willy Brandt sollte durch ein so genanntes konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden. Es reichte ihm nicht, die orangene „Willy wählen!“-Plakette zu tragen, er wollte sich auch durch die SPD-Mitgliedschaft bekennen. Die CDU stand für ein anderes, rückwärts gewandtes Deutschland.
In der Partei war er dann an drei bis vier Abenden pro Woche unterwegs: SPD-Vereinskultur, inklusive Preisskat. Im Oberbecker Ortsverein wurde er aufgenommen, obwohl er viel zu dünn war, zu rote und zu lange Haare hatte, kaum Bier trank. Er war ein Exot: „Ich bin denen sehr dankbar, dass die mich akzeptiert haben, mich nicht verbiegen wollten.“ Die SPD in Lünen war damals, so Wiefelspütz, eine kleinbürgerliche Partei mit autoritären wie sozialen Vorstellungen, und sie war erfolgreich und machtbewusst. Die Seilschaften funktionierten.
Wiefelspütz wollte dabei sein. So entstanden witzige, krampfige Situationen, heute möchte er die als typische Generationenkonflikte bezeichnen. Die aufstrebenden Jungen rebellierten gegen die Altvorderen. Man bot ihm den Posten des stellvertretenden Bürgervertreters in einem Rats-Ausschuss an. Dieses hingeworfene Häppchen kränkte ihn. Im Nachhinein ist er nicht stolz auf seine Rolle damals: „Man ist zwar nicht immer fair behandelt worden. Aber ich war auch kratzbürstig, selbstgerecht, anmaßend, arrogant.“
Ob es für ihn nicht auch andere Wege gegeben hätte? Mitte der Siebziger füllte sich die frisch eingeweihte Fußgängerzone von Lünen mit Junkies und Maoisten. Nein, Drogen habe er nie genommen. „Die Jusos hatten damals manchmal eine deftige Art, ihre Emotionen auszuleben, auch in Bezug auf Alkohol. Da hatte ich in mancher Nacht Sorge, dass es noch zu einer Begegnung mit der Polizei kommt. Das wollte und konnte ich mir als angehender Jurist nicht leisten.“ Definitiv habe er außer Nikotin und geringer Mengen Alkohol niemals Drogen zu sich genommen. Er ging lieber in Buchhandlungen und Bibliotheken. Las begeistert Böll, auch andere Autoren der Gruppe 47. Da war die Nähe zur Sozialdemokratie vorprogrammiert. Das kleine rote Buch aus China war ihm viel zu dünn.
„Ich bin neben Otto Schily der führende Innenpolitiker der SPD“ – Wiefelspütz ist in der Gegenwart angekommen. Er habe ein spannungsreiches Arbeitsverhältnis zum Bundesinnenminister. „Wir sind nicht eng befreundet, haben dauernd Konflikte und arbeiten doch gut zusammen.“ Schily sei autoritär, eigenwillig, selbstherrlich, nicht teamfähig. Aber auch ein ideenreicher, profilierter Mensch. „Sie reiben sich nicht an einer Flasche. Schily ist keine Flasche.“
Von seinem Plan, Auffanglager am Nordrand der Sahara zu errichten, habe Wiefelspütz durch die Presse erfahren. Das habe ihn geärgert. Trotzdem soll der Minister eine faire Chance haben, dem innenpolitischen Sprecher zu erklären, dass dieser nur Vorurteile habe. Denn der mörderische Menschenhandel auf dem Mittelmeer, dem hunderte von Menschen jährlich zum Opfer fallen, müsse aufhören. Empört war Wiefelspütz über die Reaktion aus Italien. „Wenn ein Mensch in Not ist, muss er gerettet werden. Dies beinhaltet natürlich nicht automatisch ein Bleiberecht in Europa.“
Von Schily wünsche er sich, dass dieser mal mit Flüchtlingen spricht. Es wäre vielleicht nur eine Geste, ein Symbol, aber selbst dazu ringe sich Schily nicht durch. Ist es nicht ein schlechter Scherz, dass der Exgrüne Schily ihn nun rechts überhole? „Schily war nie grün. Schily ist auch nicht sozialdemokratisch. Schily ist einfach immer nur Schily.“
Ob Wiefelspütz, wie in einem Lied von Franz-Josef-Degenhard besungen, langsam nach rechts drifte? Ja, es gehe ihm finanziell gut, er lebe in bürgerlichen, geordneten Verhältnissen, trage regelmäßig eine Krawatte. Ja, er sei eher ein konservativer Sozialdemokrat. Aber er sei nicht einfach rechts. „Ich habe einen fürchterlichen Horror vor Fundamentalismus, egal ob von rechts oder von links.“
Zu seinen Bürgersprechstunden kommen häufig Emigranten, bitten darum, nicht abgeschoben zu werden. Manchmal kann Wiefelspütz etwas bewegen. Er hat gute Kontakte zum Ausländeramt, zum Amt für Migrationsfragen in Zirndorf. So sei das Wanderkirchenasyl mit vielen positiven Einzelentscheidungen beendet worden; auch da habe er diskret geholfen. Viel Hilfe in solchen Fällen komme aber von einzelnen Bürgern, von Vereinen. Amnesty International gebe es ja inzwischen in jedem Dorf. Solche zivilgesellschaftlichen Strukturen könne man staatlicherseits gar nicht verordnen und zum Glück auch nicht abstellen. Soviel Courage habe er den Deutschen vor Jahren gar nicht zugetraut.
In Berlin erlebt Wiefelspütz das große Ganze, in Lünen die Einzelschicksale. „Der arme Teufel, der vor mir sitzt, zeigt mir, dass das Menschliche die Hauptrolle spielen muss. Dieser arme Teufel bewahrt mich davor, einfach rechts zu sein.“ Wenn er nicht Wagner oder Mozart hört, legt er sich alte Schallplatten von Bob Dylan auf: „Mama, put my guns in the ground, I can‘t shoot them anymore.“ Ob er dieses Lied wohl mal dem Bundesinnenminister vorspielt?