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Archiv-Artikel

Aufs Baby passt doch die Tochter auf

Viele vietnamesische Ladenbesitzer arbeiten so lange, dass sie ihre Kinder vernachlässigen. Das Jugendamt Lichtenberg beklagt starke Entfremdung

„Die Eltern arbeiten sieben Tage von morgens bis abends“

VON MARINA MAI

Fünf Jahre war das Mädchen alt, das spätabends im Schlafanzug in Lichtenberg umherirrte. Ein Polizeiauto nahm es auf und wollte es zu den Eltern fahren. Das vietnamesische Mädchen sprach perfekt deutsch, wusste aber nicht, wo es wohnt und wie seine Eltern heißen. Die Fünfjährige konnte aber genau sagen, in welche Kita sie geht und welche Erzieherin sie dort betreut. Die Polizisten brachten sie zur Kita.

Monika Kunkel erzählt diese Geschichte, sie ist Sozialarbeiterin im Jugendamt Lichtenberg und dort hauptsächlich für Kinder aus vietnamesischen Familien zuständig. In Lichtenberg wohnt fast jeder dritte der 10.000 Berliner Vietnamesen. „Viele vietnamesische Kinder entfremden sich von ihren Eltern“, sagt Kunkel. „Die Kinder werden sich selbst überlassen, während die Eltern sieben Tage in der Woche von morgens bis abends arbeiten.“ Oft wüchsen sie im Laden der Eltern auf oder würden von ständig wechselnden Asylbewerbern betreut.

Es sei vielen Eltern selbstverständlich, ihren Acht- bis Zwölfjährigen die Verantwortung für jüngere Geschwister und den Haushalt nahezu allein zu übertragen. Bemerken die Eltern die Distanz ihrer Kinder zu ihnen, schicken sie sie oft einige Zeit zur Erziehung nach Vietnam. „Würden die Eltern mit dorthin reisen, wäre das eine gute Chance für die Kinder, deren Kultur zu erleben“, sagt Sozialarbeiterin Kunkel. „Aber so vergrößert sich die emotionale Kluft zwischen Kindern und Eltern.“

Gymnasiallehrer in Lichtenberg und Marzahn beobachten zunehmend vietnamesische Schüler, die vor und nach dem Unterricht, an den Wochenenden und während der Ferien im elterlichen Laden helfen müssen. „Viele sind zu müde, um dem Unterricht zu folgen. Wir hatten schon mehrere Schulabbrecher unter eigentlich motivierten Schülern“, sagt eine Lehrerin.

Die übergroße Mehrheit der hier lebenden Vietnamesen arbeitet als Händler und schert sich nicht um das Ladenschlussgesetz. Das wird von den Behörden oft toleriert. Sie arbeiten sechs bis sieben Tage in der Woche, Urlaub nehmen sie jedes zweite bis vierte Jahr.

Thang Nguyen, Inhaber eines Zeitungsstandes mit Imbissangebot, beschreibt seine Situation: „Würde ich für den Abend eine Verkäuferin einstellen, hätte ich mehr Lohnkosten als Einnahmen. Also stehe ich selbst montags bis samstags von 7 bis 20 Uhr im Laden. Wenn ich es schaffe, öffne ich auch sonntags einige Zeit.“ Derzeit ist seine Frau mit den Kindern, vier Monate und fünf Jahre alt, zu Hause.

Wenn Thang Waren kauft, muss sie den Stand betreuen, mit dem Baby auf dem Arm. Im Winter wird seine Frau wieder mit verkaufen müssen, denn allein kann er das auf die Dauer nicht durchhalten. „Die Kinder bringt sie dann einfach mit“, sagt er. So hat sie es bereits getan, als die Familie nur ein Kind hatte. Mit zwei Kindern habe seine Frau mehr Zeit zum Arbeiten als mit einem, meint der Vietnamese. „Die Tochter kann doch ein bisschen auf das Baby aufpassen.“

Sozialarbeiterin Kunkel ist mit den Folgen solcher Arbeitszeiten für die Psyche der Kinder konfrontiert. „Erst letzte Woche hat sich eine Achtjährige zwei Stunden lang bei mir ausgeheult, weil sie keine Freizeit hat.“ Das Mädchen hatte Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, die Grundschule schickte sie zum Jugendamt.

Manchmal müssen die Behörden eher reagieren. Beispielsweise als zu Jahresbeginn zwei Kinder im Vorschulalter in Hohenschönhausen von der Feuerwehr aus einer brennenden Wohnung geholt wurden. Die Eltern hatten im Blumenladen gearbeitet.

Monika Kunkel ist jedes Mal innerlich gespalten, wenn wieder eine vietnamesische Familie einen Kitaplatz mit elf bis zwölf Stunden täglicher Betreuung beantragt. „Wenn ich die lange Betreuungszeit ablehne, riskiere ich, dass das Kind sich selbst überlassen wird. Da ist es in der Kita oft besser aufgehoben.“

Immer mehr vernachlässigte vietnamesischen Kinder und Jugendliche aus Händlerfamilien werden von Schulen und Polizei zu Monika Kunkel geschickt. „Ich kann sie doch nicht alle ins Heim stecken“, klagt sie. Manchmal kämen Kinder und Jugendliche eigenständig ins Jugendamt, weil sie nicht mehr bei den Eltern leben möchten. In zwei Fällen hat das Jugendamt Lichtenberg vietnamesischen Eltern bereits das Erziehungsrecht entzogen, weil sie ihre Töchter zu sehr als Arbeitskräfte missbraucht hatten.