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Archiv-Artikel

Schmidts Spritzgussevangelium

AUS DILLINGEN UND LOBENSTEIN BARBARA BOLLWAHN

Die vier Männer haben ihre Arme fest vor den blauen Latzhosen verschränkt, als wollten sie sich abschotten. Ihre Blicke sind abwartend, lauernd. An einem Montag um halb elf sitzen sie in einem schmucklosen Raum neben der Produktionshalle und erdulden eine theoretische Schulung. Zu verdanken haben sie das dem Geschäftsführer des mittelständischen Unternehmens ETM in Lobenstein in Thüringen, das Kunststoffbauteile für Autos herstellt. Die hochmodernen Spritzgussmaschinen, an denen die Männer arbeiten, produzieren 6 Prozent Ausschuss.

Wilhelm Schmidt, ein gebürtiger Franke, der seit 30 Jahren in Schwaben lebt und genauso von „e weng“ spricht wie vom „Steckerle“, soll es richten. Er lässt sich von der Reserviertheit der Blaumänner nicht beeindrucken. Seine blauen Augen leuchten, wenn er Folien in den Overheadprojektor legt und geradezu liebevoll von Schneckenhubumwandlung und Leckfluss am Nadelverschluss spricht. Immer wieder schlägt er einen Bogen von den Maschinen zu den Arbeitern. „Das Material verhält sich wie der Mensch. Es geht den Weg des geringsten Widerstands.“

Skeptische Arbeiter

Die Skepsis, die ihm entgegenschlägt, hat einen simplen Grund: Schmidt ist 73 Jahre alt und Rentner. Die Männer vor ihm könnten seine Söhne oder Enkel sein. Der Schichtleiter ist gerade mal 24 Jahre alt, die drei Maschineneinrichter sind 35, 48 und 52. Und in ihren Gesichtern steht nur eine Frage: Wie soll uns ein alter Knacker, der an Uraltmaschinen mit Kurbel statt Display groß geworden und seit Jahren im Ruhestand ist, bei der Qualitätssicherung helfen?

Hätten sie ihn am Vortag, am Sonntag, gesehen, hätte er ihrem Bild von einem Rentner eher entsprochen. Da saß Wilhelm Schmidt nebst Frau bei Maultaschen am Mittagstisch in Dillingen, einer 9.000-Einwohner-Stadt zwischen Augsburg und Ulm, und schwärmte von selbst gemachter Quittenmarmelade. Doch Schmidt ist kein Rentner, der den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Sicher, die Haare sind weiß, und längst haben sich Geheimratsecken ihren Platz erobert. Aber er ist noch immer rank und schlank. Die 73 sieht man ihm nicht an. Es sind eher die leicht antiquierten Sprichwörter, die auf sein Alter hinweisen: Wem nicht zu raten ist, ist nicht zu helfen. Wer nicht hören will, muss fühlen. Kein Schaden ohne Nutzen.

Wilhelm Schmidt beginnt mit einem Geständnis. „Ich war mit meiner Arbeit verheiratet“, sagt er. Dann greift er zum Saftglas und illustriert, worin das Problem mit den Nuten beim Pressen von Folie auf Plastikbecher besteht. Er erzählt mit so viel Begeisterung von Schussvolumina und Funktionszyklen, dass man bald selbst erfahren will, warum beim Zweistufenprozess in der Jogurtbecherproduktion das Tiefdruckverfahren besser ist als das Trockenoffsetverfahren.

Der Kunststoffexperte Schmidt hat, wie es so schön heißt, sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Er hat im Schichtdienst an Fräsmaschinen gearbeitet und 16 Jahre als Konstrukteur. Bis er vor elf Jahren aussortiert wurde. Das Unternehmen, in dem er zuletzt Leiter der Verfahrenstechnik für Spritzgussmaschinen war, entließ alle Mitarbeiter über 58. Schmidt war 62. Er dachte nicht daran, seine Marmeladen zu verfeinern, die Perserkatze „Candy“ zu umsorgen, ein geistiger Kleingärtner zu werden. Er ging zum Arbeitsamt. „Können Sie mir eine Stelle vermitteln?“, fragte er die Sachbearbeiterin. Weil das Amt aber schon mit den Jüngeren ausreichend überlastet ist, kümmerte sich Schmidt auf seine alten jungen Tage selbst.

Scharf auf Kunststoff

Fündig wurde er beim Senior Experten Service (SES), über den er in der Zeitung gelesen hatte. Schmidt bewarb sich kurzerhand, und nachdem der zuständige Fachbereichsleiter befunden hatte, dass man ihn auf die Kunststoffbranche und die Menschheit loslassen könne, wurde er in die Kartei aufgenommen. Das war vor zehn Jahren. Natürlich musste Schmidt auch versichern, dass er gesundheitlich fit ist. „Die Risiken muss man selbst wissen“, sagt er. „Man ist ja alt genug.“

Zwanzig Einsätze hatte er seitdem. Viermal Malta, fünfmal China, zweimal Sri Lanka, dreimal Kolumbien, fünfmal Thailand, weitere Aufträge in Mexiko und Ägypten. Ob Zwölfstundenflüge, tropische Temperaturen, rattenscharfes Essen oder einen Brechdurchfall, den er, wie er später erfuhr, mit Pferdetabletten kuriert hatte, Schmidt reist mit Begeisterung um die Welt, um sein Spritzgussevangelium zu verkünden. Und wieder macht er ein Geständnis: „Ich war immer auf Kunststoff scharf.“

Er blickt zu seiner Frau und sagt: „Alte Liebe rostet nicht.“ Sie weiß, er meint seine Arbeit. „Ja, Willy, du bist schon gut“, sagt sie liebevoll und stolz. Sie ist auch Rentnerin und arbeitet nebenher in einem Inkassounternehmen. Als sich ihr Mann auf den Weg nach Thüringen macht, bittet sie ihn, vorsichtig zu fahren und die Pfandflasche wieder mitzubringen.

Mit 120, 140 Kilometer pro Stunde fährt Schmidt über die Autobahn. Er ist kein Raser, aber auf der Überholspur fühlt er sich wohl. Nach drei Stunden macht er Halt an einer Raststätte und holt den Reiseproviant heraus. Wasser und dünne Vollkornkräcker. Schmidt achtet auf seine Gesundheit.

Seit er 25 ist, beginnt bei ihm jeder Tag mit dreißig Minuten Kniebeugen, Rumpfbeugen und Liegestütze. Vor zwanzig Jahren hat er das Rauchen aufgegeben, viermal in der Woche isst er Müsli, mittwochs macht er, egal bei welchem Wetter, eine dreistündige Wandertour, und seit 30 Jahren fährt er Alpinski. Schmidt hat keine Gebrechen, keine Zipperlein, und er braucht keine Pillen.

„Ich bin ein Glückspilz“, sagt er, „ich weiß das.“ Er bekommt eine gute Rente, und regelmäßig verlässt er das beschauliche Schwabenstädtchen, um in ferne Länder zu reisen, wo sein Wissen gefragt ist. Schmidt will keine Palastrevolten anzetteln in den Firmen, die ihn als Fachmann ordern, sondern die Produktion optimieren. Als Dank dafür wird er nach getaner Arbeit zu Moscheen, Tempeln und Pyramiden gefahren oder auf Fincas eingeladen. Manchmal auch zusammen mit seiner Frau.

Geld verdient Schmidt mit seiner Arbeit nicht. Aber er gewinnt. „Wenn man im Berufsleben steht, kann man an fünf Fingern abzählen, wie oft man das Wort ‚danke‘ hört.“ Wenn diejenigen, die er in die Geheimnisse der Spritzgusstechnik einweiht, merken, dass er ihnen was beibringen kann, „dann ist man der King“. Gebraucht zu werden – mehr, sagt Schmidt, könne er auf seine alten Tage nicht verlangen. Ein Sprichwort gefällig? „Geben ist schöner als nehmen.“

Der Einsatz in Thüringen ist Schmidts erster innerhalb von Deutschland. Warum die Seniorenexperten vorwiegend im Ausland eingesetzt werden, darüber kann er nur spekulieren. „Vielleicht gibt es im Ausland weniger Hemmungen zuzugeben, dass das Personal nicht qualifiziert genug ist. Hier wird oft gesagt, es liege am Werkzeug.“

Keine Rentnerverschickung

Der SES preist seine Experten im Ruhestand als „Botschafter der deutschen Wirtschaft“, deren Einsätze oft zu Exportaufträgen führen und somit Arbeitsplätze sichern würden. Wilhelm Schmidt, der sich über Fachzeitschriften, Bücher und das Internet „up to date“ hält, fände es deshalb nicht zu viel verlangt, wenn der SES seinen Experten wenigstens die Eintrittskarten zu den wichtigsten Fachmessen spendieren würde. „Es geht doch nicht um Rentnerverschickung“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Als ob für Dritte-Welt-Länder veraltetes Fachwissen reichen würde.“

Am frühen Abend parkt Schmidt den Wagen vor einer kleinen Pension, die sich auf Biker-Tourismus spezialisiert hat. Es stört ihn nicht, er geht ohnehin früh zu Bett. Um acht muss er in der Firma sein, sein Evangelium verkünden.

Manfred Boguslawski, ein 44-Jähriger mit Schnauzbart, ist Geschäftsführer der Autozulieferfirma. Er hat den „hohen Schulungsbedarf“ seiner Mitarbeiter erkannt – und die Schwierigkeiten, diesen zu befriedigen. Die Maschinenlieferanten würden ihre Geräte zwar in der Theorie erklären, aber zu wenig in der Praxis, erzählt er. Und von Beratergesellschaften, die nach ihrem Einsatz „dicke Bibeln“ schreiben, aber keinen Nutzen bringen, hält er nur sehr wenig. Auch beim Arbeitsamt habe er sein Glück versucht. Doch die hätten ihm nicht sagen können, wo „die in die Wüstenrente gezwungenen Fachleute über 50“ hin sind. Bei Schmidt hat er ein gutes Gefühl. Für drei Wochen hat er ihn vorerst angefordert. „Sein Erfahrungsschatz ist entscheidend“, sagt der Chef. Über die Vermittlungsgebühr schweigt er.

Die oberste Altersgrenze beim Seniorenexpertenservice liegt bei 75 Jahren. Doch Senioren, die schon lange dabei sind, können so lange arbeiten, wie ihnen danach zumute ist. Schmidt macht nicht den Eindruck, als würde er aufhören wollen. Frühstück um sieben, Schmidt topfit. „Wenn ich das nicht mehr machen könnte, würde ich nur noch rückwärts blicken. Das wäre der Anfang vom Ende“, sagt Schmidt. Den Kanarienvogeltod nennt er das. Der Kanarienvogel, der auf der Stange sitzt, sich aufplustert und runterfällt. Schmidt flattert mit den Armen und lacht. „Der Herrgott wird mir schon den Löffel aus der Hand nehmen.“

Nach anderthalb Stunden hat Wilhelm Schmidt die Arbeiter in Thüringen von seinem Spritzgussevangelium überzeugt. „Die Skepsis hat sich gelegt“, sagt einer. „Das hat sich wirklich gelohnt.“ Selbst der Jüngste unter ihnen zollt Schmidt Respekt. „Sein Erfahrungsschatz zählt viel.“ Doch auch Schmidt will etwas von ihnen wissen: Ob sie etwas Neues gelernt haben. „Die Schmidt’sche Philosophie“, sagt einer und lacht. Und das ist wohl, was Wilhelm Schmidt so jung hält. Er ist wie eine gute, alte Spritzgussmaschine, die so lange läuft, wie sie geschmiert wird.