: Mut zur Verwahrlosung
Schnelle Lacher, groteske Übertreibung: In Oskar Roehlers neuem Film „Agnes und seine Brüder“gibt es einen Hauch von Melodram. Doch schon in der nächsten Szene triumphiert der Klamauk
VON BERT REBHANDL
Wenn in einer Familie der Butler häufig grundlos weint, ist das allein noch kein Grund zur Sorge. Wenn dann aber noch der eine Sohn sexsüchtig, der andere Sohn Politiker und der dritte Sohn eine Tänzerin ist, spricht vieles dafür, einen Experten heranzuziehen. Im deutschen Kino ist Oskar Roehler für Fälle dieser Art zuständig. Er erfindet ständig neue Außenseiter und kämpft dann leidenschaftlich gegen deren Diskriminierung.
Im Falle seines neuen Films „Agnes und seine Brüder“ sind nicht alle Teile der Handlung im eigentlichen Sinn erfunden. Manches ist auch einfach aus einem amerikanischen Bestseller eingedeutscht worden, mit der Freizügigkeit dessen, der sich von „The Corrections“ nicht einschüchtern lässt, sondern dort weitermacht, wo Jonathan Franzen aufgehört hat: bei der Karikatur, beim Klamauk, bei der Travestie. So wie der Roman dichte Passagen und dämliche Längen hatte, verhält es sich auch mit dem Film „Agnes und seine Brüder“. Er ist so unausgeglichen wie seine Protagonisten.
Der Patriarch, den Vadim Glowna mit Mut zur Verwahrlosung und in direkter Fortsetzung seiner Rolle in „Die Unberührbare“ spielt, bildet den neurotischen Kern. Er bleibt dementsprechend meistens im Hintergrund. Die Brüder stammen von zwei Müttern ab, die in Roehlers Familienaufstellung völlig fehlen. Agnes (Martin Weiß) ist von den drei Brüdern derjenige, der am weitesten gegangen ist: Er hat nicht nur das Geschlecht gewechselt, er hat auch Erfahrungen gemacht, die ihn befähigen, seine Traumata anzuerkennen und aus den Wiederholungszwängen auszubrechen. Agnes ist Avantgarde, auch deswegen, weil er schon einmal in New York gelebt hat.
Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu in einer profund schmierigen Rolle) hingegen arbeitet zwar in einer Bibliothek, er ist dort jedoch irgendwie fehl am Platz. An den Bücherregalen interessiert ihn nur der Durchblick, der entsteht, wenn ein Band entlehnt ist. Hans-Jörg ist ein Voyeur, ein Masturbant, ein Pornokonsument – eine lächerliche Erscheinung, die Roehler noch lächerlicher macht, weil er sich ein paar grobe Witze auf Kosten Hans-Jörgs nicht versagen will. Die Therapiegruppe der Schmuddelmänner ist der Tiefpunkt des Films. Dass Oskar Roehler es sich nicht verkneifen wollte, selbst dabei zu sitzen, ist bezeichnend für die Identifikationspolitik seines Films. Vermutlich liebt er seine Figuren, aber er findet nichts Liebenswertes an ihnen, weil ihm die primären Profite des Kinos, die schnellen Lacher und grotesken Übertreibungen, wichtiger sind.
Der Politiker Werner (Herbert Knaup) hat das Zeug zu einer interessanten Figur. Er wird besonders gründlich verschenkt, und seine Familie gleich mit dazu. Werner gehört nicht zufällig den Grünen an. Sie sind die einzige Partei, der man als Filmemacher eins auswischen kann. Die Grünen, als Milieu, bieten so viele Angriffsflächen, dass Roehler glaubt, er müsse gar nicht mehr begründen, woher der große Irrtum kommt. Die Mechanismen der Macht spielen keine Rolle. Werner ist ein Verordnungspolitiker, weil er analfixiert ist – oder auch umgekehrt.
Die vielen einfachen Gleichungen des Films gehen nur im Fall von Agnes nicht immer auf. Hier gibt es einen interessanten Rest, einige Momente, in denen eine genuine Emotion aufleuchtet. Die Begegnung mit dem ehemaligen Liebhaber Henry aus New York gibt eine Ahnung davon, dass es irgendwo weit jenseits des Horizonts von Roehler ein Genre gibt, das früher einmal Melodram hieß. Dann erkennt man aber Ariane Sommer in der Entourage von Henry (Lee Daniels), und schon ist man wieder zurück in der kleinen Welt des Regisseurs.
Oskar Roehler ist inzwischen geschickt genug, an seinem eigenen Mythos mitzuschreiben. Er gibt Margit Carstensen eine Nebenrolle als Roxy, dem Schutzgeist von Agnes. Damit insinuiert er selber ein wenig, er sei der neue Rainer Werner Fassbinder. Aber das, was er tut, war im deutschen Kino früher gut aufgeteilt zwischen Fassbinder und Rainer Erler und Heinz Erhardt. An keines dieser Paradigmen kommt Roehler heran.