: Das tägliche Brot
Die Realität industrieller Brotproduktion findet selten den Weg ins Kino. Wegen dieser Leerstelle kann die Bäckerei zum Sehnsuchtsort werden, an dem die Arbeit und das Leben zur Deckung kommen
VON CLAUDIA LENSSEN
Getreide zu Mehl stampfen, einen Brei mischen, Fladen rösten – die Arbeit am Grundnahrungsmittel Brot ist eines der beliebtesten Motive des ethnografischen Films. Im Weltkino, das die kulturellen Standards dessen, was erinnert wird, dominiert, bleibt dagegen meist unsichtbar, wie Brot entsteht. Es fungiert als Requisit in Szenen, die in der entfremdeten Organisation von Arbeit mit deren Gegenteil assoziiert sind: Brot und seine putzig portionierten Ableger Brötchen kommen auf den Tisch, wenn Frühstücks- oder Pausenstimmung inszeniert wird.
Die Verwandlung von Teig in knusprige Brote und Brötchen geschieht heute sichtbar in beleuchteten Backöfen, und jede Tankstelle simuliert duftendes Backstubenflair. Dennoch sind derlei realistische Alltagsdetails im Kino und Fernsehen kaum Thema. Wenn etwa in Valeska Grisebachs Film „Mein Stern“ ein 16-jähriges Mädchen seinen ersten Job in einem Backshop beginnt, ist die Anprobe der adretten Verkaufsuniform für die Ladenchefin wichtiger als das Produkt, das aus tiefgekühlter, vorgebackener Ware besteht.
Wo und wie solche Rohlinge entstehen, entzieht sich der Öffentlichkeit. Bilder von voll automatisierten Massenproduktionsabläufen entzaubern unweigerlich jede durch die Werbung inszenierte Warenaura. Deshalb halten die großen Lebensmittelhersteller Kamerateams auf Abstand, wenn sie deren Bilder nicht kontrollieren können. Den Ausfall einer Schicht durch Dreharbeiten dürfte kaum ein Produzent bezahlen können, und so werfen – schon wegen der Hygienevorschriften – höchstens Industriefilmer im Firmenauftrag einen Blick in die abgeschirmten Hallen.
Bilder vom Brot können Lust auf Essen stimulieren, Bilder vom Brotbacken nur, wenn die Szene Assoziationen aufruft, die an verschüttete, vom modernen Zwiespalt zwischen Arbeit und Leben abgespaltene Uremotionen erinnern: wie man Schnittchen aufgetischt bekam oder Plätzchenbacken duftete. Diese Welt der regressiven leiblichen Genüsse kollidiert mit der symbolischen, in der Backöfen, Teigtröge, alles was zum Prozess der Umwandlung von Mehl, Hefe oder Sauerteig, Salz, Wasser oder Milch ins wohlschmeckende Endprodukt gehört, sich auch mit Verschwinden, Verwandeln, Verzehrbar-Machen verbindet.
Die schaurigen Backöfen aus „Hänsel und Gretel“ oder „Goldmarie und Pechmarie“ aber auch Wilhelm Buschs „Max und Moritz“, wo die Jungs in den Trog fallen und im Brotteig gebacken werden, gehören zum kulturellen Repertoire. Das Brotbacken, jahrhundertelang eine Frauendomäne, wird in den Märchen der Vormoderne den Hexen angedichtet. Buschs Lausbubengedicht spielt in der Backstube, die seit dem späten 18. Jahrhundert die geläufige Betriebsform zur Brotherstellung war. In solchen kleinen Manufakturen hantierten Meister und Gesellen im weißen Teig und bedienten den Steinofen schon vor Morgengrauen: eine Urszene beflissener Schwerarbeit.
Obwohl schon Ende des 19. Jahrhunderts Brotfabriken entstanden, hielten kleine Bäckereien bis vor 30 Jahren in der BRD die Grundversorgung aufrecht. Sie gehörten zum Milieu jedes funktionierenden Viertels, in kleineren Orten wie in Städten, und prägten morgens das Straßenaroma.
Nur ein Film des sozial engagierten Neuen Deutschen Kinos der Siebzigerjahre griff diesen Wirklichkeitsausschnitt auf und landete 1976 damit einen Kinoerfolg. „Das Brot des Bäckers“ von den Schweizern Erwin Keusch und Karl Saurer erzählt als melancholische Sitcom von einem grantligen Bäckermeister (Günter Lamprecht), seinem aufmüpfigen Lehrling (Bernd Teuber) und einer Typengalerie aus querköpfigen Familienmitgliedern und Verkäuferinnen. Die Geschichte, wie dieser Kleinbetrieb in Zeiten von technischer Rationalisierung in Schwierigkeiten gerät, wie ihn die Selbstverwirklichungsideen der Bäckersöhne in den Niedergang treiben, ist ein Einzelstück geblieben. Erst „Mit Laib und Seele“, ein neuer Kurzfilm des Dokumentaristen Dieter Schumann, knüpft mit der Geschichte zweier alter Bäcker kurz vor Schließung ihres Betriebes an den Stoff an.
„Schafft Arbeit und Brot!“, hieß eine selbstverpflichtende Parole in der DDR, aber die Sichel, das Werkzeug der Getreideschnitter, wurde im Staatsemblem durch einen Zirkel ersetzt. Konsequent feierte man den technischen Fortschritt lieber mit zahllosen Dokumentarfilmen, in denen sich Mähdrescher und kollektive Ernteeinsätze zu einem sozialistischen Hymnus verbanden. Wie es mit der Produktion weiterging, bis die gewaltigen Mengen vierpfündiger Roggenmischbrote zum subventionierten Einheitspreis von einer Mark täglich unters Volk kamen, war kein Thema mehr für Defa-Filmer.
In den letzten Jahren wiederum entstanden in Frankreich und Belgien einige Autorenfilme, die die Arbeit in der mechanisierten modernen Backstube mit einem Sinn fürs realistische Detail zeigen. In „Rosetta“ von den belgischen Brüdern Dardenne zum Beispiel sucht ein 16-jähriges Mädchen voll verzweifelter Energie nach Arbeit. Es nimmt seine Probeanstellung in einem Bäckereibetrieb so ernst, dass es den schweren Mehlsack hochwuchtet und zu viel Mehl in den Bottich schüttet. Durch den riesigen rotierenden Quirl aus dem Takt gebracht, verpatzt es gerade mit seiner Tüchtigkeit die Mischung. Am Ende der Szene steht Rosetta wieder auf der Straße.
In Eric Zoncas Film „Der kleine Dieb“ geht es umgekehrt um einen Lehrling, der vollkommen verstummt in den laufenden Prozess eingegliedert ist. Er knetet, formt und platziert die Teigbrocken auf dem Backblech. Wie mechanisierte Handarbeit dem Transporttakt des Fließbands unterliegt, kann man in diesem zeitgenössischen Film verfolgen, eine rare Inszenierung aus Realitätspartikeln, deren intensiver Eindruck gerade auch ihrem Seltenheitswert im Kino entspringt.
Alle Abläufe bis zum Ende, wenn die fertigen Brote in hohen schwerfälligen Stellagen zur Verpackungsmaschine rollen, funktionieren in dieser zeitgenössischen Backstube laut, staubig und fremdbestimmt. Kein Wunder, dass der Junge sich nach Feierabend in eine Gangsterkarriere hineinträumt und einen Ausbruch versucht. Am Ende kehrt er, nachdem er die Mechanik des Einbrecherlebens kennen gelernt hat, in die zivile Anstrengung seiner Bäckerexistenz zurück und hält der Routine sachlich, sogar mit einer Spur Coolness, Stand. Aus dem intensiven physischen Spiel entwickelt Zoncas Film beiläufig so etwas wie das Inbild eines modernen Arbeiters.
„Nénette und Boni“ von Claire Denis erfand 1996 dagegen noch einmal den idyllischen Zauber der Backstube und ihrer Märchenfiguren neu: Valeria Bruni-Tedeschi als rosige, ewig lächelnde Bäckerei-Prinzessin, Vincent Gallo ihr schwarzgelockter Geselle, mehlig bestäubt im weißen Unterhemd. Ein Traumpaar, das den milchigen Duft von Brioche verströmt.
Die Backstube als kleines Schlaraffenland und Schauplatz selbstzufriedener Verführungskunst ist ein Genussversprechen, das für den kaum erwachsenen Boni (Grégoire Colin) unerreichbar bleibt. Seine schwangere jüngere Schwester, die zu ihm flüchtet, bringt die verdrängte Flucht der Jugendlichen vor dem brutalen Vater in Erinnerung. Die schöne Bäckerin und ihr Laden sind Bonis Fluchtpunkt erotischer Urerfahrung: Das suggeriert der Film durch die Blicke des Protagonisten. Aber Claire Denis schafft es, dass man beim Zuschauen plötzlich zu riechen meint, wie sich Bonis Fantasie (und die der Zuschauer) aus der Szenerie Bilder auswählt, die von den Klischees der Warenwelt stammen könnten. Dieselben stimulierenden Brotdüfte scheinen einen einzunebeln, die heute um jeden Backshop wehen und die reale sterile Produktion vergessen machen.