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Ein Compétiteur sagt adieu

Verteidiger Valérien Ismaël vom Fußball-Bundesligisten Hannover 96 steht wegen chronischer Schmerzen vor der Entscheidung, seine Karriere zu beenden. Noch ringt er mit sich, aber er ist sicher: Er kann auch loslassen

AUS HANNOVER ROGER REPPLINGER

Alle haben ihre Sachen in der Kabine. Alle ziehen sich um. Dann gehen alle raus, bis auf einen. Innenverteidiger Valérien Ismaël. „Blödes Gefühl“, nennt er das.

„Raus“, das heißt Mannschaftstraining, Zweikämpfe, Dreck, Schmerzen, die wieder weggehen, Gras, frische Luft, dumme Sprüche, der Trainer, die Chance, beim nächsten Bundesligaspiel mitzumachen. „Drin“ heißt: Physiotherapie, allein im Kraftraum, Schmerzen, die bleiben, beim Spiel auf der Tribüne sitzen und das beschissene Gefühl: Ich hätte das Zeug dazu, der Mannschaft was zu nützen, aber ich kann nicht. Wenn es gut läuft, kann man es auf der Tribüne noch irgendwie aushalten, aber wenn nicht, wie bei Hannover 96 in dieser Saison, vor allem bei den Innenverteidigern, dann ist das Zugucken „frustrierend“.

Valérien Ismaël hatte schon einen Knorpelschaden, als er im Spiel gegen Leverkusen im September 2008 einen Schlag aufs rechte Knie bekommt. Jetzt hat er zwei große Knochenödeme dazu, hartnäckige Schwellungen des Knochenmarks. „Ich warte immer noch“, sagt Ismaël, noch hat er nicht aufgegeben, den Antrag auf Sportinvalidität nicht gestellt. Vielleicht hat Valérien aufgegeben, aber Ismaël noch nicht. Oder umgekehrt.

Schmerzen im Alltag

Noch vor zehn Wochen hatte er beim Spazierengehen mit seinen beiden Schäferhunden Schmerzen. Beim Treppensteigen. Eigentlich immer. „Das ist jetzt viel besser“, sagt er, „ich habe im Alltag keine Schmerzen mehr. Aber auf diesem besseren Niveau stagniert es.“ Im Januar hat er die Trainingsintensität gesteigert, doch das Knie schmerzte nach 20 Minuten und wurde dick.

Die Schmerzen sind chronisch. Ismaël ist 33 Jahre alt, zu jung für chronische Schmerzen. „Das kann man sich nicht vorstellen“, sagt er über die Folgen für seine Psyche. Die Schmerzen vergiften das Leben, die Psyche, die Beziehung, die Stimmung. Er versucht, das nicht zu zulassen. „Ich bin nicht frustriert“, sagt er, „ich jammere nicht.“

Wenn die Jungs zum Training rausgehen, dann kann den Einen, der nicht rausgeht, die Depression packen. Der Körper zieht die Psyche runter und die Psyche den Körper, und es gibt keinen Ausweg. „Warum trifft es mich so hart?“, hat sich Valérien Ismaël gefragt, als er sich 2006, noch in Diensten des FC Bayern stehend, Schien- und Wadenbein brach. Diese Fragen machen nicht gesund, aber es ist schwer, sie zu vermeiden. „Damals wollte ich es erzwingen, ich war immer schlecht gelaunt“, sagt Ismaël, „ich war unangenehm, schlecht drauf, die ganze Zeit. Das war schwierig für meine Freundin.“ Das kriegt er diesmal besser hin.

Valérien Ismaël hat was gelernt. Und das auch, weil er etwas lernt. Betriebswirtschaft an der Fachhochschule der Wirtschaft Hannover (FHDW). Das schafft Abstand zur Verletzung, Alternativen zum Fußball, macht den Kopf frei, stellt andere Fragen an ihn als die nach dem Knie, richtet die Konzentration auf was anderes. Nicht mehr so verbissen. Und weil es dem Kopf hilft, hilft es auch dem Körper.

„Man macht Bewegungen, die man sonst vermeidet, weil sie wehtun, und sie tun nicht weh, weil man an was anderes denkt. Und man merkt, dass es nicht wehgetan hat und denkt: hoppla“, sagt er. Er hat nach der „positiven Seite“ der Verletzung gesucht und eine gefunden. Das hilft ihm, nicht zu resignieren. „Gelassenheit“, nennt er das. Klingt einfach, ist es nicht.

Schon sieben Monate ist er verletzt. „Je länger ich ausfalle, desto schwieriger wird es, zurückzukommen“, sagt er. Er kommt jetzt in ein Alter, in dem er auch ohne Verletzung ans Aufhören denken würde. Aber es ist einfacher aufzuhören, wenn man das Gefühl hat, dass es rund ist. Hat er nicht. Man hört leichter auf, wenn man nicht verletzt ist. Der Übergang ist nicht klar. Ismaël mag es klar.

Er könne loslassen, sagt er

Valérien Ismaël denkt an Spieler, denen das, was ihm passiert, als Zweiundzwanzigjährige widerfahren ist. „Puh“, sagt er, „dann bist du frustriert und fragst dich: Was ist mein Werk?“

Das ist sein Werk: Die Meisterschaften und Pokalsiege mit Werder und Bayern, Pokalsiege mit Racing Strasbourg und dem RC Lens. Vielleicht ist es nicht rund, aber ganz schlecht ist das auch nicht. „Bei mir ist das also was anderes“, sagt er, „deshalb kann ich auch loslassen.“

Jeden Tag drei, vier Stunden Physiotherapie, Krafttraining, Rad fahren. „Das tut gar nicht weh“, sagt er, „Gott sei dank.“ Er radelt durch die Wedemark. Er „spielt mit dem Gedanken“ ans Aufhören und spricht von „damit abfinden“. Und manchmal spricht er von sich als Fußballer im Imperfekt. Aber perfekt ist es – noch – nicht.

Das Studium erweitert den „Horizont“. Das ist ein wichtiges Wort für ihn: Horizont. Er will Manager werden, Sportdirektor einer Profi-Fußballmannschaft. Die betriebswirtschaftlichen Grundlagen hat er sich im Studium geholt, jetzt fehlt noch die Spezialisierung auf Fußball. Er würde gern bei einem Bundesligisten ein Praktikum machen.

Wenn er darüber nachdenkt, was ihm im Moment am meisten fehlt, dann ist das „der Wettbewerb, die drei Punkte zu holen, sich zu messen, ein Ziel zu erreichen, mit anderen zusammen.“ Valérien Ismaël nennt sich „Compétiteur“. Er hat in seinen Augen „Feuer“ gesehen, „das haben heute nicht alle jungen Spieler“, sagt er. Er hat ein paar Mal mit dem 19-jährigen linken Außenverteidiger Konstantin Rausch gesprochen, denn er ist ja immer noch ein Führungsspieler. Er sagt ihm, das er keinen Cappuccino vor dem Training trinken soll, sondern den Ball gegen die Wand kicken. Er sagt ihm, was er sich vornehmen soll: „Wenn du zehn Spiele gemacht hast, 15 machen wollen, und dann dreißig und dann 15 Jahre – und nicht zufrieden sein.“

Ismaël war nie zufrieden, auch das macht die Entscheidung mit dem Aufhören schwierig. Irgendwann wird sie kommen. Dann geht er in den Keller und macht einen von den Roten auf. Das Aufhören ist keinen Schluck wert – aber sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben, das schon.

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