„Interessen einer Branche haben gesiegt“

Edda Müller, Deutschlands oberste Verbraucherschützerin, wirft Rot-Grün vor, dem Druck der Chemieindustrie nachgegeben zu haben. Jetzt müsse Renate Künast aktiv werden, die Richtlinie könne noch verbessert werden

taz: Frau Müller, wie stark schützt uns die neue Richtlinie vor Chemie?

Edda Müller: Wir kennen die Wirkungen vieler Substanzen auf Mensch und Umwelt nicht. Seit vielen Jahren haben wir es mit einem Großexperiment am Verbraucher zu tun. Das wollte die EU-Kommission stoppen. Eigentlich. Doch ruderte sie in den letzten Wochen zurück. Die Politik wird auch künftig in der Regel nur dann handeln, wenn es einen Skandal gibt.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Die jetzige Version ist so stark abgespeckt, dass nur noch 10.000 statt, wie geplant war, 30.000 Chemikalien auf ihre Sicherheit geprüft werden. Selbst einige Krebs erzeugende Stoffe werden nicht systematisch erfasst.

10.000 Stoffe, das ist doch eine Menge. Was heißt das für den Alltag?

Es ist paradox. Reinigungsmittel werden auf ihre Sicherheit getestet, Quietscheentchen nicht. Den Unterschied macht, wie ein Produkt gemäß seinem Zweck verwendet wird. Putzmittel gelangen ob ihrer Funktion über das Wasser in die Umwelt, Spielzeuge nicht. Da ist es auch egal, dass Kinder an ihrem Plüschbären oder Holzauto lutschen.

Kann der Verbraucher, der durch Chemikalien erkrankt, künftig die Industrie verklagen?

Er muss nach wie vor beweisen, dass seine Leiden auf eine bestimmte Chemikalie zurückzuführen sind. Allerdings steigen seine Chancen, wenn Substanzen nach der neuen Richtlinie als gesundheitsgefährdend klassifiziert sind.

Das werden nun weniger sein als geplant. Wer ist dafür verantwortlich?

Es gab einen Schulterschluss zwischen Kanzler, Wirtschaftspolitikern und Gewerkschaften. So haben wieder die Interessen einer einzelnen Branche über die vieler Verbraucher gesiegt.

Ein rot-grün regiertes Deutschland und der Kanzler fordern weniger Schutz für Mensch und Umwelt. Finden die Verbraucherschützer kein Gehör mehr?

Die Industrie hat eindrucksvoll argumentiert, dass zusätzliche Kosten 1,7 Millionen Jobs in Deutschland gefährden. Das bringt die Politiker auf ihre Seite.

Was setzen Sie entgegen?

Die Wirtschaft betreibt reine Panikmache, die Zahlen sind nicht belastbar. Die Kosten sind mit der weichgespülten Richtlinie ohnehin noch einmal verringert worden, auf 2,3 Miliarden Euro in elf Jahren.

Haben Sie keine eigenen Argumente?

Doch, die zunehmende Zahl der Allergien, die steigenden Gesundheitskosten.

Wann werden Sie mit der Bundesregierung verhandeln?

Wir werden unsere Anwältin, die grüne Bundesverbraucherministerin Renate Künast, mit den Argumenten konfrontieren.

Ihre Anwältin hat sich bisher in Schweigen gehüllt.

Darüber wundern wir uns sehr. In der Europäischen Kommission sieht das ganz anders aus. EU-Verbraucherkommissar David Byrne hat uns unterstützt.

Die Wirtschaft hat sich Gerhard Schröder angehört, hat er Sie auch schon befragt?

Nein.

Die Richtlinie muss noch Europaparlament und Ministerrat passieren. Wird sich die Industrie mit weiteren Forderungen durchsetzen?

Unsere Arbeit mag bisher keine Früchte getragen aber. Aber wir geben das Spiel nicht verloren.

INTERVIEW: HANNA GERSMANN