: Dieses Hotel ist eine Nation
Einst war das Grande Hotel im mosambikanischen Beira ein Ort des Luxus. Heute ist es eine Republik von Hausbesetzern. Das Künstler-Duo RothStauffenberg hat mit den Bewohnern einen Film gemacht
VON JENNIFER ALLEN
Als Christopher Roth und Franz Stauffenberg nach Beira in Mosambik kamen, war das größte Hotel der Hafenstadt total ausgebucht. Das Grande Hotel hat seit der Eröffnung 1954 viel von seiner Pracht als luxuriösestes Urlaubsziel des afrikanischen Kontinents eingebüßt, denn in den 370 Zimmern hausen inzwischen über 3.000 Hausbesetzer, die das Hotel seit Anfang der 80er in Beschlag nehmen. Nur in vier Zimmern gibt es überhaupt Strom, das olympische Schwimmbad ist inzwischen eine sumpfige Lache. Die blonde Schönheitskönigin „Miss Portugal“, die sich einst neben dem Sprungbrett für eine Zigarettenreklame der Kolonialmacht abbilden ließ, ist ebenfalls längst Geschichte. Und der Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach dient heute dem hauseigenen Theaterensemble als Bühne für Stücke über Aids-Prävention.
„Das Hotel ist wie eine Nation“, sagt Roth, der seit den frühen 90ern mit Stauffenberg das Künstlerduo RothStauffenberg bildet. Neben dem Theaterensemble verfügt das Hotel über verschiedene Tanzgruppen, Schulklassen für jede Altersgruppe und eine eigene Sicherheitsmiliz. RothStauffenberg haben zusammen einen Film über das Hotel gedreht. „Allerdings hat es uns nicht so interessiert, die Risse in den Mauern zu zeigen. All das dient dem Film mehr als Hintergrund. Wir wollten den Bewohnern eine Bühne schaffen, und das Hotel ist das Bühnenbild.“ Es sollte also alles andere als ein Dokumentarfilm dabei herauskommen. „Uns war es wichtig, mit den Leuten dort neue Fiktionen zu schaffen und nicht alte zu wiederholen: ‚So sieht es im armen Afrika wirklich aus.‘ Sondern mit den Bewohnern des Hotels etwas Fiktives zu filmen und nicht dauernd nach der sogenannten Realität zu suchen.“
Als sich die beiden Künstler 2006 nach Mosambik aufmachten, traten sie in die Fußstapfen einer Generation von Filmemachern, die stark von André Bazins Glaube in das Bildungpotenzial des Kinos geprägt worden war. Die Franzosen Jean-Luc Godard und Jean Rouch, der Nordkoreaner Shin Jun-chul und der in der kolonialen Hauptstadt Lourenço Marques (heute Maputo) geborene Portugiese Ruy Guerra. Sie alle kamen auf Einladung des marxistischen Präsidenten Samora Machel nach Mozambik, der das Instituto Nacional de Cinema (Inac) kurz nach der Unabhängigkeit von Portugal 1975 gründete. Machel wollte eine Filmindustrie für das junge Land aufbauen: Nicht nur sollte das Volk im Bild festgehalten werden, sondern das Volk sollte seine eigenen Bilder machen und diese Bilder sollten wiederum an das Volk zurückgegeben werden.
RothStauffenbergs Reise hat mehr als nur Bilder hervorgebracht. Ihre Ausstellung „Cartes Postales“, die bis zum 18. April bei Esther Schipper in Berlin läuft, ist eine komplexe Installation: ein provisorisches, bestuhltes Kino aus Holz, Schnur und Segeltuch, ein Buch und Perücken aus Keramik. RothStauffenbergs Film, von dem immer wieder andere Teile in anderen Schnittfolgen gezeigt werden, verwebt in oft verwirrender Weise die Geschichte des Grande Hotels mit der stürmischen Politik Mosambiks und dem traurigen Schicksals des Filminstituts, wo heute die Filmdosen der 70er vor sich hin rosten.
Der Titel der Ausstellung verweist auf Rouch; er nannte die Super-8-Filme aus Mozambik „Postkarten“ von Menschen, die weder lesen noch schreiben können und trotzdem an der Geburt der neuen Nation teilhaben sollen. Das in der Galerie aufgestellte mobile Kino erinnert an das „Kino auf Rädern“, das die frisch entwickelten Filmrollen von Godard et alii nachts auf den Dorfplätzen projizierte.
Doch die Geschichten, die von den Hausbesetzern des Grande Hotels erzählt werden, sind neu. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern haben RothStauffenberg nicht nur Kameras, sondern auch Masken mitgebracht. Die meisten der Geister- und Monsterköpfe, Punk-Perücken und klassischen Halbmasken stammen aus einem Kostümladen in der Oranienburger Straße in Berlin. „Die Theatergruppe hat uns gefragt, was sie aufführen solle, ein Aids-Stück oder ein Lehrstück im brechtschen Sinne über Korruption“, sagt Stauffenberg. „Wir hatten uns für das Erste entschieden, sie haben dann jedoch – inspiriert durch die Masken – etwas völlig anderes gespielt.“ Die beliebteste Verkleidung – die auch als Skulptur in der Ausstellung auftaucht – war eine neongelbe Perücke, die an eine blonde Schönheitskönigin aus einem Comic erinnert. „Wo immer wir hinkamen, haben sie sich selbst inszeniert, ein Bild von sich und ihrer Welt geschaffen und ihr Leben oder Sachen, die sie gesehen hatten, nachgespielt.“
Die Improvisation befasst sich mit der Kolonisation: Ein weißer „Lehrer“ unterrichtet auf dem Hubschrauberlandeplatz – fast so, als sei er gerade aus der “Ersten Welt“ gelandet. Der „Punk“ in der Schulklasse lässt sich jedoch von dessen Lehrmeistereien nicht beeindrucken und macht ein Zigarettenpäuschen. Später wird der Lehrer dann von gruseligen Gangstern in Totenmasken überfallen. Aber das ist nur eine Geschichte. Obwohl es kein Drehbuch gab, entwickeln sich die Figuren und Szenen nahtlos ineinander. Während sich das Filmteam durch die dunklen Gänge des Hotels bewegte, gingen die Masken durch viele Hände, und jeder schuf einen neuen Charakter und erfand eine neue Rolle. Die neongelbe Perücke wird erst von einer „Kellnerin“ getragen, dann als Krone der „Mutter der Kultur“ und schließlich landet sie auf dem Kopf der „Double-Dutch-Vortänzerin“. Ein Schamane taucht auf, der auch tatsächlich im Hotel praktiziert. Das Stück endet mit einem Tanz und mit einem Maskenball für alle Hotelbesetzer.
RothStauffenberg nennen ihren Film „Mozartbique“: eine Anspielung auf das Aufeinandertreffen Afrikas und Europas. Aber es geht nicht nur um die Begegnungen im Grande Hotel, sondern auch um Mosambiks langen Kampf für die Unabhändigkeit und Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaros“ (1786), die den Kampf zwischen Adligem und Diener ähnlich dem zwischen Kolonialherren und Kolonialisiertem zeigt.
Diese Vermischung der Kulturen wird im Film fast zur physischen Erfahrung durch den Schnitt, die Musik und fünf verschiedene Kommentarstimmen, die wiederum als eigenes Theaterstück für sich funktionieren. Allerlei Geister tauchen da immer wieder auf. Machel erklärt, dass die Völker Afrikas für ein wahres Bild der Realität und des Krieges kämpfen würden. Ein junges Liebespaar führt das Filmteam durch das Grande Hotel und wird dabei von einer Arie begleitet, die den Figaro und seine geliebte Susanna wieder zum Leben erwecken. Und eine weibliche „Radio-Stimme“ berichtet uns von Achille Mbembes „Afropolitanismus“.
RothStauffenberg mussten von dem „Secretario“, dem Chef des Hotels, eine Genehmigung einholen, um zu filmen, das Gleiche noch mal von einem Secretario der Stadt Beira. Aber das war es dann auch.
Niemand in Grande Hotel hat gefragt, was aus dem Film eigentlich werden soll oder warum sie gefilmt werden. „Sie haben sofort gespielt, sie haben nie gefragt, warum oder wieso. Wir waren selbst oft überrascht, was da passiert, und wussten nicht, ob es gespielt ist oder jemand sich wirklich beklagt oder streitet“, sagt Stauffenberg. „Das Einzige, was wir gefragt wurden, war: Wann kommt ihr zurück?“ Ähnlich mag sich das auch der Zuschauer nach dem Film fragen: Wann gibt es die Fortsetzung?
Unsere Autorin Jennifer Allen wurde eben mit dem Preis für Kunstkritik 2009 der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine und der Art Cologne bedacht. RothStauffenbergs „Cartes Postales“ sind noch bis zum 18. April bei Esther Schipper in der Linienstraße 85 in Mitte zu sehen. Ein Katalog, „Based On a True Story“, ist in der Edition Patrick Frey, Zürich 2009, erschienen. 176 Seiten, durchgehende Farbillustrationen, zwei Textileinlagen, ein Pop-up und 211 Fußnoten, 49,– Euro