: Gerupfter Engel
Wer kein Künstler wird, hält sich eben die Straße frei. Zum Tod der großen New Yorker Fotografin Helen Levitt
Es passt zu ihrem Werk, dass sie 95 alt wurde, denn Helen Levitts Fotografie war zeitlos. Ihre Bilder erschienen undatiert und ohne Ortsbezeichnung, sodass man New-York-Kenner sein muss, um zu bestimmen, ob ein Bild 1940 in Spanish Harlem oder 1965 an der Lower East Side aufgenommen worden ist. Sie fotografierte ihre Stadt in sozialen Miniaturen: alte Einsame, die durch die Straßen wehen wie Geister aus dem 19. Jahrhundert; junge Männer, die die Zeit totschlagen; Kinder im Bann ihres eigenen Spiels, gänzlich ohne Horizont von Zeit und Raum. Selbst der Umstand, dass es ein schwarz-weißes Werk gibt und ein farbiges, bringt keine Auskunft über Früh- und Spätwerk, denn ihre Farbe ist so ältlich wie irgend denkbar und ihr Schwarz-Weiß gestochen und gegenwärtig von Anfang an.
Sie hatte Verbindungen zur Photo League, also der amerikanische Variante des Arbeiterfotovereins; 1941 war sie Schnittassistentin von Luis Buñuel, der in Amerika Propagandafilme drehte. Mit 46 Jahren entschied sie sich plötzlich, an der Art Students League Malerei zu studieren. Selbstverständlich versuchte Alexander Liberman, sie zur Modefotografie zu bringen, nach ihrer Bildformel: exzentrische Szenen an heruntergekommenen Orten. „But I wouldn’t do it“, hat sie später, in ihrer kryptischen Art, berichtet. Sie ist Straßenfotografin geblieben, wahrscheinlich ein halbes Jahrhundert lang. 1936 kaufte sie sich ihre Leica; 1959 begann sie mit der Farbe; irgendwann, wohl Mitte der 80er, gab es keine neuen Bilder mehr.
Aus ihren Beobachtungen war politisch nicht viel zu machen, weil die Kinder, die vor geschlossenen Läden um zerdepperte Straßenkreuzer herum spielen, in Levitts Augen hochinteressante Individuen waren, Opfer ihrer Verhältnisse höchstens sekundär. Dabei war ihr Blick auf Kinder keineswegs liebevoll, ja, Zeitgenossen haben darauf hingewiesen, „dass sie Kinder gar nicht unbedingt mochte“. Einen halbnackten Jungen auf dem Gehweg, tief gebückt, skizzierte sie als verkürzten Torso auf zwei Beinen, der von einer brutalen Hand an der Schulter gepackt wird (es ist seine eigene): Ein Bild, das man nur machen kann, wenn man Goya und Bacon gespeichert hat. Die gesichtslose, fragmentierte Figur ist erzählerisch plausibel – ein Junge, der eine lädierte Limousine vom Gehsteig aus inspiziert. Nur erscheint das Auto als gescheiterter Gott und der Junge als gerupfter Engel. Weil solche Bilder nicht einzuordnen sind, hat man sie als „lyrisch“ bezeichnet. Levitts Rezeption ist, trotz früher MoMA-Shows und später Bücher, im großen Maßstab weitgehend ohne Folgen geblieben.
Das mag an ihrer spezifischen Kombination von Stil und Gegenstand gelegen haben. Denn ihr Lehrmeister war Henri Cartier-Bresson, der Erfinder der wie choreografierten Straßenszene; anders gesagt, war ihr Stil französisch. Ihr Gegenstand aber war der amerikanische Alltag, mit seinen pragmatischen Zwängen, sozialen Entgleisungen, grotesken Figuren, verballhornten Moden. Stil und Gegenstand wollen nicht so recht zueinanderkommen. Aus dieser Spannung lebt ihr fotografisches Werk, das – anders als das von August Sander oder Diane Arbus – aus Einzelbildern besteht, die aber auch bildjournalistisch nie ihre große Stunde hatten. Sie hat nie verraten, woher sie kam und was sie antrieb. Es ist unbekannt, wovon sie wirklich lebte oder mit wem. Helen Levitt war eine Außenseiterin der fotografischen Welt, mindestens. Es ist gar nicht auszuschließen, dass die Verschlossenheit Levitts werkgenetisch Methode hatte: Wer kein Künstlerstar wird, hält sich eben die Straße frei. Es war die Straße des 20. Jahrhunderts, und Levitt war deren Passantin. Sie hatte keine Schildkröte dabei, aber eine Leica. ULF ERDMANN ZIEGLER