„Alle Religionen gleich behandeln“

INTERVIEW CHRISTIAN RATH

Herr Sommer, Sie haben als Verfassungsrichter im letzten Jahr das Kopftuchurteil vorbereitet. Müssen Länder, die das muslimische Kopftuch in der Schule verbieten, auch die christliche Nonnentracht und die jüdische Kippa bannen?

Bertold Sommer: Ja, das ist die zwingende Konsequenz. Anders ist ein Verbot religiöser Symbole in der Schule verfassungsrechtlich nicht zu vertreten.

Die Stuttgarter Kultusministerin Annette Schavan sagt nun, die Nonnentracht sei nur eine Berufsbekleidung von Ordensschwestern.

Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen und die Kirchen vermutlich auch nicht. Die Nonnentracht ist eine Glaubensbekundung und daher zu behandeln wie ein islamisches Kopftuch.

Frau Schavan scheint diese Konsequenz zu überraschen …

Dass die Religionen gleich zu behandeln sind, steht an mindestens fünf Stellen des Karlsruher Urteils. Das war eine der Grundaussagen.

Wie neutral müssen LehrerInnen künftig auftreten?

Welche Anforderungen an Lehrkräfte gestellt werden, muss das jeweilige Land entscheiden. Und es hat hier – grob gesagt – zwei Möglichkeiten. Entweder das Land erlaubt den Lehrern das Tragen von Symbolen, die zeigen, welchem Glauben sie angehören. Oder es verbietet solche Glaubensbekundungen, um Konflikte schon im Ansatz zu unterbinden. Für ein präventives Verbot ist allerdings ein Gesetz erforderlich, weil hier in die Religionsfreiheit der Lehrer eingegriffen wird.

Inzwischen haben vier Länder Anti-Kopftuch-Gesetze erlassen. Sind Sie damit zufrieden?

Es kommt nicht auf die Zahl der Gesetze an, sondern auf die Qualität der vorausgehenden politischen Debatte. Und die hat mich teilweise enttäuscht.

Warum?

Dort, wo man entsprechende Gesetze geschaffen hat, wurden kaum noch die Vor- und Nachteile abgewogen. Man hat die Gesetze eher wie eine lästige vom Bundesverfassungsgericht auferlegte Pflichtübung beschlossen.

Frau Schavan weiß eben schon lange, was sie für gut und richtig hält …

Wir brauchen aber eine sehr ernsthafte Debatte darüber, wie diese Gesellschaft mit dem Islam umgehen will. Die Muslime sind mit 3,5 Millionen Menschen inzwischen die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Wenn wir sie in diese Gesellschaft integrieren wollen, sind Gesetze, die ihrer Tendenz nach Islam und Fundamentalismus gleichsetzen, sehr gefährlich.

Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie das Kopftuch nur als religiöses Zeichen sehen? Es ist eben auch Symbol des antiwestlichen islamischen Fundamentalismus.

Das war dem Bundesverfassungsgericht durchaus bewusst, deshalb haben wir ja auf die Möglichkeit von präventiven gesetzlichen Verboten zur Vermeidung von Konflikten hingewiesen. Fatal finde ich aber, wenn das Kopftuch generell als verfassungsfeindliches Symbol bezeichnet wird. Das ist es eben nicht. Es gibt auch viele Kopftuchträgerinnen, für die es nur Bekundung ihres Glaubens ist.

Große Teile der Frauenbewegung sehen im Kopftuch aber generell ein Symbol für die Ungleichwertigkeit der Geschlechter.

Das ärgert mich besonders. Der ganze Konflikt wird allein auf dem Rücken von Frauen ausgetragen, die sich in die deutsche Gesellschaft integrieren wollen, denen aber der Zugang zum erlernten Beruf verweigert wird. Nach den Vollbärten der muslimischen Männer fragt niemand.

Muslimische Mädchen stehen in konservativen Familien unter einem besonderen Druck. Ist es da nicht gefährlich, wenn die muslimische Lehrerin als Respektsperson selbst ein Kopftuch trägt?

Ich glaube, die Wirkung kann auch eine ganz andere sein. Gerade Mädchen aus konservativen muslimischen Familien sehen, dass man auch mit Kopftuch Abitur machen, studieren und einen öffentlichen Beruf ausüben kann. Das ist für Frauen in islamischen Gesellschaften ja alles nicht selbstverständlich.

Müsste man bei der Einstellung der Lehrerinnen nicht viel mehr auf den Einzelfall schauen, warum eine Frau ein Kopftuch trägt – ob eine fundamentalistische Haltung dahinter steckt oder nicht?

Das würde ich jetzt bevorzugen. Aber Ausnahmen von einem generellen Verbot sind nach Einzelfallprüfung auch möglich, wenn das jeweilige Landesgesetz dies so vorsieht. Auf diesen Mittelweg hätte im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vielleicht deutlicher hingewiesen werden können.

Halten Sie es für denkbar, dass bei Neueinstellungen andere Standards gelten als bei Lehrkräften, die schon längere Zeit mit Kopftuch oder Ordenstracht unterrichten?

Ja. Wer jahrelang mit Kopftuch oder Ordenstracht im Klassenzimmer stand, ohne dass es zu Konflikten kam, könnte eine Art Bestandsschutz genießen. Aber auch das müsste das jeweilige Landesgesetz regeln und die Religionen auch hierbei gleich behandeln.

In Hessen wird nicht nur LehrerInnen, sondern allen BeamtInnen das Tragen religiöser Symbole verboten. Geht das zu weit?

Im Gegenteil, eine solche Klausel regelt teilweise Selbstverständlichkeiten und ist daher unnötig. Bei Richtern und Polizisten ist aus meiner Sicht auch jetzt schon klar, dass sie ihre religiöse Zugehörigkeit nicht äußerlich sichtbar machen dürfen.

Das müssen Sie erläutern: Warum braucht man für Lehrkräfte ein Gesetz, für Richter und Polizisten aber nicht?

Bei Justiz und Polizei tritt der Staat eindeutig hoheitlich auf. Richter und Polizisten sind an ihrer Dienstkleidung erkennbare Funktionsträger. In der Schule ist die Lage komplexer. Lehrer und Lehrerinnen können ihren Unterrichts- und Erziehungsauftrag nur erfüllen, wenn sie sich mit ihrer Person einbringen, wenn sie als Individuum auftreten. Dazu gehört auch die Religionszugehörigkeit. Will man das generell einschränken, ist ein spezielles Gesetz erforderlich.

Was ist mit einer Finanzbeamtin, die keinen Kundenkontakt hat? Darf sie ein Kopftuch tragen? Darf der Staat es ihr verbieten?

Hier dürfte wohl die Religionsfreiheit vorgehen.

Das geplante Berliner Gesetz will BeamtInnen alle auffälligen religiösen Symbole verbieten. Erlaubt bleibt aber das Tragen von Schmuckstücken mit religiösem Bezug. Ist das nicht eine heimliche Diskriminierung des Islam? Das auffällige Kopftuch ist künftig tabu, während das Kreuz an der Halskette bleiben kann.

Ich sehe da keine Diskriminierung. Einerseits ist die christliche Nonnentracht ebenfalls ein auffälliges Zeichen, andererseits gibt es auch Schmuckstücke mit islamischem Bezug, zum Beispiel den Halbmond am Kettchen, die erlaubt bleiben.

Je mehr Landesgesetze erlassen werden, umso undurchsichtiger wird die Lage. Musste das sein?

Theoretisch kann das Tragen religiöser Symbole in jedem der 16 Bundesländer anders geregelt werden. Dies ist eine Folge des Föderalismus, in dem die Bundesländer für die Schulen zuständig sind. Die Verhältnisse sind ja auch von Land zu Land verschieden.

Sehr übersichtlich war dagegen die Karlsruher Kruzifix-Entscheidung, die dem Staat generell das Aufhängen von religiösen Symbolen in der Schule verbot. Gilt dieses Entscheidung eigentlich noch?

Natürlich. Das Kopftuch-Urteil ist keine Abkehr vom Kruzifix-Beschluss, sondern betrifft einen anderen Sachverhalt. Wenn der Staat ein Kreuz an der Schulwand aufhängen lässt, identifiziert er sich mit einer bestimmten Religion und verletzt dabei seine Pflicht zur Neutralität. Die Lehrerin, die ein Kopftuch trägt, bleibt dagegen auch als Beamtin grundsätzlich ein Individuum mit eigenen Grundrechten. Der Staat nimmt ihre Ausübung der Religionsfreiheit lediglich hin, ohne sich die damit verbundene Aussage zu Eigen zu machen.