: Rindfleischs Stolz
Per Anhalter über Deutschlands Wasserstraßen. Heute: Teil 4 und Schluss
VON PETER SCHANZ
So klammert sich der Schiffer endlich noch am Felsen fest, an dem er scheitern sollte. [Goethe, natürlich]
Auf der Havel begeistert sich mein brandenburgischer Schiffer immer mehr. Und mich gleich mit. Es fängt noch nüchtern an am Brandenburger Silokanal: Hier stand das Stahlwerk, Stückchen weiter wurden all die Platten gebaut für all die Plattenbauten. Hinter dem Deetzer Knie die Reste einer riesigen Müllumschlagsanlage vor gewaltigen, aus Müll geformten Bergen: Westmüll! Jahrelang hier gelagert gegen gutes Westgeld. Dort drüben die Raketenstellungen der Russen. Dann zeigt Kapitän Eisermann mit großem Schauder die Stellen aller Grenzkontrollanlagen.
Und endlich kommt der Alte Fritz ins Spiel: Hinter dem Hügel dürfen wir Sanssouci vermuten, davor sehen wir immerhin die Schlösser Cecilienhof, Babelsberg, Glienicke. So viel schöner Hauptstädterstolz – zu jedem Inselchen an Wannsee und Havel weiß der Schiffer eine Schnurre, zu jedem Bauwerk eine Anekdote. Als Schiffsjunge war er hier noch gefahren, von 1956 bis zum Mauerbau 61, auf diesem väterlichen Kahn. Am Wasser hier ist alles wieder eins geworden. Berlin schickt sich ins Wochenende.
Ganz im Westen der Stadt liegt die Schiffermetropole Spandau, unterhalb der Schleuse neben der Zitadelle, wo bei der Mündung der Spree in die Havel alle Kilometer auf null gestellt werden. Am Schifffahrtsufer in der Havelkurve vor der Dischingerbrücke werden die Kähne weggeparkt, in drei Reihen: dreischiffig, übers Wochenende, nach komplizierten Absprachen darüber, wer wann wieder weitermüsse. Mittendrin liegt die „Fritz-Gerhard“, für immer festgemacht, als schwimmendes Heim des Binnenschiffer-Vereins zu Berlin „Gute Fahrt“ e. V. – mit Frühschoppen jeden ersten Sonntag im Monat um 10. Eisermanns haben bis Sonntagabend Zeit.
Weil heute der Schiffer ruht, dürfen wir exkursiv eine Fachkraft des Wassertourismus besingen! Das hatte ja eher abgeschreckt: drei Stunden Hauptstadtrundfahrt vom Wasser aus „mit fachkundiger Livemoderation durch einen Stadtbilderklärer“. Sigrid Haarmann vom Tourismusverein Berlin-Köpenick e. V. arbeitete so souverän wie geduldig mit sachtem, schleichendem Nachdruck daran, dreieinhalb Stunden lang Würstel und Kindl verzehrende Touristen zu sachkundigen Anhängern zeitgenössischer Architektur auszubilden. Sie nahm uns Gästen vom Lande alle Angst vor dem Kreuzberg, der doch auch friedlich sei und gutbürgerlich, gar romantisch bisweilen – nur eben den einen Tag im Jahr nicht. Sie blieb auf der ganzen langen Strecke sanftmütig, ohne auch nur ein einziges dieser sattsam bekannten dünnen, dreisten Reiseleiterwitzchen zu reißen, vollends zu fürchten im Zusammenhang mit dem so genannten Berliner Mutterwitz.
Nein, sie war voll pädagogischen Eros und in sich ruhender Inbrunst, frei von missionarischem Eifer, sprach geschmeidig zweisprachig, blieb stets international orientiert und heimatsolidarisch, eine Frau mittleren Alters, eher standfest als sportlich, energisch ins rote Haar greifend. Sie blieb durchgehend kritisch-heiter, ergänzte tagesaktuell und zeigte sich sowohl in Judaika als auch in Fußballdingen hoch kompetent: eine Aufklärerin!
Montag. Unter Berücksichtigung der Winterruhe der Fledermäuse in der Spandauer Zitadelle sowie der Klinkerfarbe des Juliusturms dortselbst wurde 2002 die Spandauer Schleuse nach über neun Jahren Sperrung neu eröffnet. Jawoll, auch die Natur ist präsent auf diesem Hightech-Schleusen-Steuerstand: Altweibersommerliche Spinnen haben sich vor den Kameras vernetzt, und der Schleusner hat nun Horrorfilme auf seinen vielen neuen flachen Monitoren.
Schichtleiter Holger Otto ist der Berliner, bei dem dann doch schnell das gute Herz über die Schnauze siegt. Auf einem Seminar habe er den Umgang mit Schiffsführern und Bürgern gelernt und so auch mit Managern auf ihren Millionenjachten, die sich vom kleinen Arschloch auf der Schleuse doch nix sagen lassen wollen.
Wer glaubt an die neue alte Berliner Meeresanbindung über Szczecin – jetzt, nach dem 1. Mai, der Polen nach Europa holte? Der mit Abstand kürzeste Weg zum Meer ist es ja, aber heute nimmt den niemand. Nach sechs Stunden fängt mich die „BM 5270“ aus Polen auf, fährt aber gleich nach der Schleuse links ran – ein, zwei Stunden festmachen, einkaufen. Schleuse Lehnitz werde dann abends noch erreicht werden. Wolle ich nach Niederfinow, könne ich an Bord bleiben. Vorne im Matrosenhaus sei Platz und hier der Schlüsselbund. Straße hoch und links sei ein Lidl. Bis in zwei Stunden!
Zwei Stunden später kommt der Matrose, macht die Leinen los und holt mich ins Steuerhaus. Kaffeestunde, schwere polnische Sandbohne. Wie jedes Erstgespräch: Jetzt leer nach Szczecin. Zuvor Fracht aus Belgien nach Haldensleben. Vater Schiffer, Onkel Schiffer, Bruder Schiffer, Rente etwa 250 Euro. Also weiterschiffen. Alles klar.
Zwischen Hennigsdorf und Oranienburg an Urwaldufern Einbrüche stahlknüppelharter Zivilisationsversuche: Satellitenschüsseln recken sich aus dem Mangrovendschungel empor. Datschenbollwerk hinter Jägerzaunpalisaden, baumarktgefräst. Camps mit archaischen Baracken, Laubenpiepers dunkelste Kehrseiten, wir kriegen hier das entgegengereckt, was man an der Straßenseite verheimlichen will. Rückzugsnester für möglicherweise tierfreundliche Unholde hinter niedergerasselten Jalousien. Wir fühlen uns unfreundlich beobachtet. Was wird hier ausgebrütet? Schön, dass noch der Lehnitzer See kommt.
Feierabend.“ Sagt Kapitän Lewandowski. Ich verziehe mich aufs Vorschiff. Aufgenommen an Bord der „BM 5270“ aus Bydgoszcz, eingewiesen in die Matratzengruft der Exmatrosenkajüte zwischen Fahrradteilen, Kartoffelsäcken, Teppichresten und ohne Abort. Pinkeln über Bord macht einen Höllenlärm, so still ruht der Oder-Havel-Kanal, unter einer ungeheuren Sternenflut. Ein bisschen Schlaf geht immer.
Früh morgens Nebel. Erst Schwaden zwischen den Ufern, bald kaum noch Ufer. Der Matrose ist nach vorn gekommen: Shit! Sie hätten doch kein Radar – er sei das Radar! Nun stehen wir am Bug, er friert in der Morgenkälte, mir wird mein Romantikergetue peinlich. Aber es ist großartig im Nebel, es ist wie Schweben! Er hebt die Ufer auf, endlich, eine highe Welt. Wäre ich das Radar – fatal! Eine Stunde später hat die Sonne auch diesen Tag gewonnen.
In Niederfinow werden wir in eine Wanne gesteckt, mit dem ganzen Kahn und all dem Wasser drum herum. Und dann schwimmt es mit uns in den Himmel hinein. Das ist nur für Schwindelfreie: über der Landschaft ausgesetzt und an stählernen Fäden hängend 36 Meter tief abgeseilt zu werden. Wir wollen gern die Ingenieurskunst von 1934 loben und uns dem TÜV verschreiben. Mein Kapitän erfreut sich am Ausblick auf die polnischen Wälder und lobt die gute deutsche Wertarbeit. Am Ende ist’s noch mal gut gegangen, wir sind unten im Tal. „Schöne Technik, schöne große Technik,“ sagt mein Kapitän. Das finde ich auch.
In Hohensaaten managt Gretel Rindfleisch zwei Fremdenzimmer. Wilhelm Rindfleisch bastelt mit seiner Rente in der Garage und gerät ins Schwärmen: „Das Schiffshebewerk ist doch immer wieder so toll! Keine einzige Schweißnaht! Alles genietet!“ Er war jahrzehntelang immer wieder in Niederfinow. „Mit dem Eisbrecher, Winter für Winter, und auf der Oder, vor allem auf der Oder. Eisbrecher fahren ist doch immer wieder so toll!“ Er war Maschinist auf dem Eisbrecher „Hohensaaten“. Die Arbeit war wichtig, der Oder das Eis vom Leibe zu halten, freies Fließen zu ermöglichen, der Schifffahrt Chancen zu lassen und vor allem: das Winterhochwasser zu verhindern! Da kommt die Plastiktüte mit den Fotos auf den Tisch: Eisversetzungen, mehrere Meter hoch. Eisbrecher einzeln. Eisbrecher in Formation. Eisbrecher mit winkender Eisbrecherbesatzung. Wilhelm Rindfleisch ist stolz. Ich darf ein Foto behalten und freue mich.
Von Oderberg, wo im Binnenschifffahrtsmuseum ein altes Modell von Eisermanns altem Finowkahn mich sentimental werden lässt, geht es erst am Deich entlang und dann durch die Auen nach Hohenwutzen im Oderbruch. Altwassergegenden, wie weiland im badischen Plittersdorf nach Frankreich zu, vor bald vier Wochen. Ein Stück des Weges ist geteert, ein Stück gepflastert, ein Stück hat mehr Löcher als Weg, ein Stück führt als Bogen durch ein Feld, weil auf der Straße seit längerem ein umgestürzter Baum liegt. Auf dem Feld ein Bauer mit Pferdegespann.
Ich erreiche Hohenwutzen, ein längliches Dorf, Mittagsruhe, ein alter Mann mit Bäckermütze fegt die Straße. „Ja, hier lang kommen Sie direkt auf den Fluss. Die Bäume sind schon drüben.“ Seit knapp zwei Wochen reise ich immer wieder mit polnischen Schiffern auf deutschen Kanälen. Jetzt stehe ich vor Lewandowskis Land, Mirosław Obsts Land und der Heimat der alten Kerle von der „Transbode 11“. Ich gehe über eine Brücke, sehe Grenzschilder, zeige meinen Pass, alles geht zügig. Jetzt bin ich hier drüben – und habe sofort viel zu lesen, am polnischen Ufer, in großen Buchstaben, und alles auf Deutsch: Markthalle, Brautkleider, Tabak, Minigolf hier, Restaurant, Einfahrt, Frisör, Oder Center Berlin, Fahrradzentrum, Tankstellenzufahrt, Super Bleifrei, Glühwein Nonstop. Was ist das? Ein anderer Kontinent, outer space? Ein Themenpark über deutsche Wirtschaft und polnische Fantasie? Oder umgekehrt? Alles wuchert um eine deutsche Fabrikruine von 1945 herum: Plastiktiere, Plastikboote, Plastikgetränkekanister – voll mit Zigarettenstangen, in Folien verschweißt, und fette Würste, schwimmendes Schaschlik, triefende Broiler. Gut, wir nehmen eine polnische Wurst. Der Film wird immer schlechter: Auf dieser verlassenen Fabrikruine ist eine Uhr, und die zeigt fünf vor zwölf, man darf es fast nicht notieren. Ein Windstoß fasst unter meine Wurstpappe. Alles ist voll Senf. Vor allem ich.
Um sieben Uhr bringt mich Rindfleisch, der Eisbrecher, zur Westschleuse Hohensaaten. Um neun kommt der erste Kahn aus dem Nebel gekrochen und nimmt mich mit, „BM 5272“ aus Bydgoszcz. In Polen gibt es selten Menschennamen für die Schiffe. Nach zwei Minuten stellt der Matrose die Kaffeefrage. Stellt den Kaffeeweißer von Aldi dazu. An Bord wird freundlich geschwiegen, auch miteinander. Wir schauen hinaus. Über Nacht hat sich der Wald in den Herbst getunkt. Flugsaurier schleppen fette Fische ab, Nationalparkfahrt! Wenig Gegenverkehr auf der Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße, ab und an polnische Kohle. Oder Schrott. Russischer Schrott möglicherweise. Schafe vor Schwedt. Mehr Schafe nach Schwedt.
Ich glaube, sie hatten den Moment sehr genau ausgewählt: Ich stand auf dem Vorschiff, erwartete die Oder – die Ecke war schon zu sehen, wo es nicht mehr länger zwei deutsche Ufer geben, sondern wo mit Erreichen der Westoder das Ostufer polnisch werden würde. Genau in diesem Augenblick riefen sie mich ins Steuerhaus. Sie hatten mir den Tisch gedeckt: Messer, Gabel, Kleenex, ein Glas Vitaminsaft, ein Kartoffelgebirge unter schwerer, dunkler Soße, ein gewaltiges Schnitzel, umkränzt von den sauersten Gurken, die je auf meinen Gaumen trafen. Ich aß allein in der frisch geputzten Schifferkammer. Dziekuje bardzo.
Bei Kilometer 14,2 auf der Westoder eine symbolische Grenzabfertigung. Bei 17,4 schließlich die Stelle, wo auch backbord Deutschland aufhört. Ein paar Furchen ziehen sich einen Hügel hinauf. Nichts mehr. Und nun am Horizont Szczecin – Kirchen und Kräne, der Himmel einer Hafenstadt. Die Oder hält direkt am Hauptbahnhof.
Peter Schanz, 47, lebt als freier Autor und Dramaturg auf Fehmarn in der Ostsee