WAS DIE ARABISCHE WELT VOM MUSTERSCHÜLER LIBYEN LERNEN KANN
: Fata Morgana in Tripolis

Libyen hat sich zum neuen Musterschüler des Westens in der arabischen Welt gemausert: Das hat der Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder bei Muammar al-Gaddafi erneut deutlich gemacht. Der Kanzler hat die Reformpolitik des Landes gewürdigt und den Wandel der libyschen Politik als beachtenswert bezeichnet.

Seltsam. In Festtagsansprachen werden in Europa und in den USA bei den arabischen Ländern stets Reformen angemahnt. Sie sollten demokratisiert werden und ihre Führungen endlich anfangen, Rechenschaft vor ihren eigenen Völkern abzulegen: eine Forderung, die sicher von der Mehrheit der arabischen Bevölkerung unterschrieben würde, die unter ihren Präsidenten, Königen, Emiren und Revolutionsführern auf Lebenszeit zu leiden hat.

Hat aber die Volksrepublik Libyen, die von einem Einmannsystem geführt wird, in der es weder echte Wahlen noch Presse- oder Versammlungsfreiheit gibt, irgendeine dieser Forderungen erfüllt? Nein. Wie aber konnte Gaddafi dann in westlichen Augen so schnell zum arabischen Vorbild werden? Er hat einfach erkannt, worauf es jenseits aller Feiertagsreden wirklich ankommt – und alles richtig gemacht. Er hat den alten Ballast abgeworfen und die Lockerbie- und La-Belle-Akten geschlossen. Dann stellt er sicher, dass das libysche Öl ungehindert Richtung Europa sprudelt und die Einnahmen wieder in Projekte investiert werden, an denen sich europäische und amerikanische Firmen eine goldene Nase verdienen. Anschließend hat er seine Massenvernichtungswaffen-Programme eingestellt, um weder von Europa noch von Israel als Bedrohung gesehen zu werden. Natürlich kooperiert er vorbildlich im Antiterrorkampf: Erst diese Woche wurden in Libyen 17 mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder festgenommen. Und neuerdings bietet sich das Land sogar noch als Vorposten an, um afrikanische Flüchtlinge vom europäischen Festland fern zu halten. Was will man mehr?

Ach ja, Demokratisierung und politische Reformen – wenn genug Geld verdient wurde und die Flüchtlinge übers Mittelmeer zurückgeschickt wurden, wird das vielleicht noch irgendwie. Ansonsten gilt: Lieber diktatorisch garantierter Ölfluss und Stabilität als demokratische Unberechenbarkeit. So bleibt die arabische Demokratisierung eine Fata Morgana, die man im Westen gerne beschwört, die aber stets handfesten Interessen untergeordnet bleibt. Damit zeigt sich die Libyenreise des Kanzlers und des ihn begleitenden Goldgräbertrupps der deutschen Wirtschaft als weiteres Paradebeispiel für die doppelten Standards des Westens im Umgang mit der arabischen Welt.

KARIM EL-GAWHARY