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Archiv-Artikel

Zwischen den Stationen

Herr Nietsch will ein Fenster öffnen: Dramolett in drei verwackelten Szenen

Ein gut besetzter Hamburger Linienbus. Heißer Sommertag. Frau Adler und Frau Vogts, zwei in dicke Mäntel gehüllte Rentnerinnen mit Gehstöcken, hocken auf den Behindertenplätzen. Auf der Bank dahinter sitzt und schwitzt Herr Nietsch, ein Mann in den besten Jahren und leichter Kleidung. 1. Szene: Wohnen

Frau Adler: Sehen Sie mal da!Frau Vogts: Wo? Frau Adler: Da – die Baustelle.Frau Vogts: Was wird denn das?Frau Adler: Ein Seniorenheim.Frau Vogts: Hier?! An der Hauptstraße? Frau Adler: Ja. Frau Vogts: Meine Güte. Frau Adler: Betreutes Wohnen kommt da rein. Das kostet! Frau Vogts: Ja, das kostet. Frau Adler: Aber mit uns können sie’s ja machen.Frau Vogts: Ja, der kleine Mann muss es ausbaden.Frau Adler: Frau Schmöller ist ja nun auch im Betreuten Wohnen.Frau Vogts: Wo? Hier?Frau Adler: Aber nein. Ist doch alles noch im Bau hier. Die Frau Schmöller ist unten an der Behringstraße.Frau Vogts: Aber die war doch immer so rüstig?Frau Adler: Ja, war sie. Bis sie letzten Winter hingefallen ist. Schwerer Oberschenkelhalsbruch.Frau Vogts: Linkes oder rechtes Bein?Frau Adler: Beide Beine.Frau Vogts: Meine Güte.Frau Adler: Ja. Das heilt ja nicht mehr. Im Krankenhaus wäre sie dann fast auch gestorben.Frau Vogts: Und das in ihrem Alter!Frau Adler: Genau. Den Rücken hat sie sich blutig gelegen. Und vom Krankenhausessen hat sie eine Magenkolik bekommen.Frau Vogts: Die arme Frau!Frau Adler: Frau Adler, hat Frau Schmöller gesagt, als ich sie mal besucht habe – Frau Adler, ich will hier nur noch raus.Frau Vogts: Das kenne ich.Frau Adler: Frau Adler, hat Frau Schmöller gesagt, ich habe Schmerzen, das können Sie sich nicht vorstellen.Frau Vogts: Aber jetzt wird sie ja betreut.Frau Adler: Na, da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen …Herr Nietsch (schwitzt, beugt sich vor zu den beiden alten Damen): Wären Sie vielleicht so nett, die Fensterklappe zu öffnen?Frau Vogts: Wie bitte?Frau Adler: Kommt nicht in Frage, junger Mann. Denken Sie doch mal an die Zugluft!Herr Nietsch: Genau daran denke ich!Frau Adler: Ich möchte mir doch nicht den Tod holen.Frau Vogts: Damit ist nicht zu spaßen!

2. Szene: BücherFrau Adler: Frau Adler, hat Herr Krahl dann zu mir gesagt, das sind Schmerzen, das können Sie sich nicht vorstellen.Frau Vogts: Meine Güte – was macht der Mann denn für ein Drama?!Frau Adler: Ja, das bisschen Rheuma. Und auch nur in den Händen. Seine Frau – die hatte wirklich Grund zu klagen!Frau Vogts: Die Frau Krahl? Warum denn?Frau Adler: Wissen Sie das denn nicht? Mit dem Bandscheibenschaden?Frau Vogts: Meine Güte. Das ist ja schlimm!Frau Adler: Sie machen sich keinen Begriff.Frau Vogts: Dabei war die Frau Krahl doch immer so lustig. Und getanzt hat sie auch so gern!Frau Adler: Wer – die Frau Krahl? Mit ihren offenen Beinen? Die hat doch seit der Hochzeit nicht mehr getanzt!Frau Vogts: Aber ich dachte …Frau Adler: Die Frau Krahl wär’ ja schon froh, wenn sie noch lesen könnte. Aber mit ihrem Star geht das ja nicht mehr. Und dabei ist die Wohnung voller Bücher!Frau Vogts: Ich schlaf beim Lesen ja immer ein.Frau Adler: Es gibt ja auch nichts Vernünftiges mehr zu lesen. Nur Mord und Totschlag und Gepöbel. Schlimm!Frau Vogts: Nein, schön ist das nicht.Herr Nietsch (schwitzt kleine Bäche und ist sehr blass. Er murmelt): Steigen die denn nie aus?3. Szene: VollbremsungFrau Adler: Herr Ewers sitzt ja nun auch im Rollstuhl.Frau Vogts: Der arme Mann.Frau Adler: Ja. Drei schwere Schlaganfälle in einer Nacht. Frau Vogts: Meine Güte.Frau Adler: Seine Frau, die Frau Ewers, hat zu mir gesagt, Frau Adler, das kommt alles nur vom Zucker.Frau Vogts: Frau Ewers hat Zucker?Frau Adler: Nein, Herr Ewers. Schon immer. Der hat sich ja alles versagen müssen. Keine Schokolade, kein Likörchen, gar nichts. Hat ihm aber nicht genützt.Frau Vogts: Damit ist aber auch nicht zu spaßen.Frau Adler: Nach dem dritten Schlaganfall konnte er nicht mal mehr richtig atmen. Luftröhrenschnitt und Intubus.Frau Vogts: Meine Güte.Frau Adler: Die Narbe sollten Sie sehen! Das hat monatelang genässt. Frau Adler, hat Frau Ewers zu mir gesagt, das sind Schmerzen gewesen, die können Sie sich nicht vorstellen.Frau Vogts: Man macht sich keinen Begriff.Herr Nietsch (steht auf, um sich einen anderen Platz zu suchen, murmelt): Ich halt das nicht mehr aus.Der Bus bremst scharf. Die beiden Damen werden fast aus den Sitzen geworfen. Herr Nietsch stürzt schwer.Frau Adler (sieht sich zum bewusstlosen Herrn Nietsch um): Wieso fällt der denn um? In seinem Alter!Frau Vogts (sieht sich ebenfalls um): Der hat doch einen gezwitschert. Kam mir gleich komisch vor. Will Zugluft reinlassen!Frau Adler: Schlimm, so was. Am hellichten Tag!Frau Vogts: Schlimm. Man mag gar nicht hinsehen.Vorhang. GERT OCKERT