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Archiv-Artikel

Alles schönreden

betr.: „Experten sehen Aufschwung“, taz vom 12. 10. 04

So, so, nun wissen wir es ganz genau: Demnächst ist es so weit – der Aufschwung ist nun wirklich da! Rezept wie jedes Jahr: Gute Exporte sichern Wachstum, das jobwundermäßig auf die Binnenwirtschaft überspringt, wo der Verbraucher wieder mehr Geld ausgibt. Na also, Deutschland ist gerettet. Zumindest, wenn man den hoch bezahlten Experten glaubt. Komisch, dass die Realität eine ganz andere Prognose nahe legt. Immer neue Pleitemeldungen und Verschuldung. Vorzeigebetriebe wie Karstadt, Siemens, diverse Autohersteller usw. kündigen Standortaufgabe und umfangreichen Arbeitsplatzabbau an, auch der öffentliche Dienst ist keine Ausnahme. Überall wirken dieselben Mechanismen. Im günstigsten Fall werden „nur“ schwerste Zugeständnisse der Mitarbeiter erpresst.

Die über teure Beraterfirmen längst indoktrinierte Staatsführung sorgt für umfangreichen Sozialabbau und eine Lastenumverteilung nach unten, damit der Bürger Druck und Existenzangst von allen Seiten bekommt. Arbeitslosigkeit wird zum persönlichen Motivationsproblem degradiert und Prämienarbeit (1-Euro-Jobs) als Alternative zum festen Arbeitsplatz verkauft.

Die Aussage der Herren Zimmermann, Hüther und Konsorten ist nur ein weiteres Beispiel für die Praxis der Verantwortlichen in unserem Lande: alles schönreden und die Wirklichkeit verbal um 180 Grad drehen. Der bald wieder gefragte Wähler wird nun auf „den Aufschwung“ eingepeitscht. Jobwunder Hartz IV ist schon als Erfolg ausgemacht – demnächst wird die Arbeitslosenstatistik als erster Erfolg um 150.000 gesenkt. „1984“ hat uns längst eingeholt, aber die Realität ist subtiler als die Orwell’sche Vision vom „Neusprech“.

Der belogene, geschröpfte und teurogeschädigte Bürger verweigert sich politisch und konsumtiv. Im Binnenmarkt bekommen Politik und Marktwirtschaft schmerzhaft nur ihre eigene Medizin verpasst. Hier betreibt nicht nur der Nichtwähler genau das Controlling, unter dem er selbst zu leiden hat, und wird dies zunehmend weiter tun. Denn Geld, das er/sie nicht hat, kann er/sie ja auch nicht ausgeben. Das unterscheidet uns von den meisten Politikern. Vielleicht ist der Bürger doch nicht ganz so dumm, wie manche es gerne hätten?

REINHARD WENZEL, Bremen