im berliner ensemble : Grass liest. Leider redet er auch
Er kann es einfach. Dieser Duktus. Diese Sätze. Selbst Tagebuchaufzeichnungen von Günter Grass lesen sich gut. Oder hören sich gut an, wenn er selbst aus „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ liest, seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1990. Leider tat Günter Grass am Mittwochabend auf der Bühne des Berliner Ensemble (BE) noch etwas anderes: Er redete. Das hätte er lieber sein gelassen. Denn reden, das kann er nicht.
Die da oben, wir hier unten. Böse reiche Wessis contra gute arme Ossis. Das sind Grass’ Kernthemen an diesem Abend. Kernthemen ist eigentlich der falsche Begriff. Denn er unterstellt, es gebe da noch mehr als einen Kern. Grass aber bewegte sich nur auf dessen dünner Oberfläche. Meckerte über einen Staat, in dem es möglich sei, dass eine Kassiererin wegen vermeintlicher Unterschlagung von 1,30 Euro entlassen wird und man gleichzeitig einem Post-Menschen 20 Millionen Euro hinterherwerfe. Das kann man in dieser Schlichtheit am Stammtisch erwarten. Aber nicht von einem Literaturnobelpreisträger.
Überhaupt hat laut Grass in der deutschen Justiz keine Chance, wer kein Geld hat – die Reichen würden doch durch alle Instanzen gehen. Hallo? Gibt es da nicht so etwas wie eine Rechtsschutzversicherung? Gibt es etwa keine Prozesskostenhilfe im bundesrepublikanischen Rechtssystem? „Spätpubertär“, bemerkte der kopfschüttelnde Sitznachbar im Parkett zu Grass’ Tiraden.
Auf der Bühne saß ein Mensch, der komplett von sich und seiner Meinung überzeugt war. Dass der Spiegel sich vor Jahren entschied, einen Text von ihm nicht zu drucken, nennt er noch immer „Zensur“. Dass Zensur nur vom Staat ausgehen kann, dass es journalistische Unabhängigkeit in diesem vom ihm so kritisierten Staat gibt – was kümmert das Günter Grass? Was der Meister einreicht, hat gefälligst auch gedruckt zu werden. „Ich hab den Text dann der taz gegeben.“
Der Wessi Grass machte sich so sehr zum Anwalt des angeblich kolonialisierten, beraubten und entrechteten Ostens, dass es irgendwann sogar dem Ossi zu viel wurde, der mit ihm auf der BE-Bühne saß. Wolfgang Thierse, 1990 Chef der Ost-SPD, heute Vizepräsident des Bundestags, mag dann doch auf die eine oder andere positive Errungenschaft hinweisen. Dass etwa inzwischen irrsinnige Summen in den Osten geflossen seien und sich manches andere auch ganz nett entwickelt hat. Dass inzwischen nicht nur über 2 Millionen Ossis in den Westen gegangen sind, sondern auch 1,4 Millionen Wessis in den Osten.
Thierse, sonst ebenfalls ein streitbarer Typ, der im Fall jener von Grass erwähnten Kassiererin selbst gegen die Justiz ausholte – dieser Thierse wirkte neben dem so schlicht auftretenden, 15 Jahre älteren Grass wie ein differenzierender, ausgleichender, väterlicher Freund.
Zur Nummer 1 unter den 500 wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen hatte die Zeitschrift Cicero Grass 2006 ernannt. Im BE war davon nichts zu spüren. Aber Nobelpreise für Literatur werden ja auch nicht für das gesprochene Wort vergeben. Nach diesem Abend half nur eine Therapie: Zuhause ran ans Regal, kurz in „Ein weites Feld“ blättern, endlich „Die Box“ anlesen, seinen zweiten Erinnerungsband von 2008, Sprache und differenziertere Gedanken bewundern. Dumm bloß, dass es den öffentlich redenden Grass demnächst öfter geben soll: „Ich werde mich in diesen beschissenen Wahlkampf einschalten“, hat er nämlich im BE auch noch angekündigt.
STEFAN ALBERTI