: Wo die Sonne verstaubt
In Bochum gehen die Opel-Mitarbeiter auf die Straße. Sie sind nicht allein, denn die Bevölkerung leistet ihnen Gesellschaft: Die Krise des Autobauers bedroht die Identität des gesamten Ruhrgebiets
VON CLEMENS NIEDENTHAL
1973 war in Bochum Schicht im Schacht. Das Grubengold, von dem Herbert Grönemeyer vielleicht zu Recht behaupten sollte, dass es „uns wieder hochgeholt“ habe, blieb fortan unter Tage. Die Stollen waren leer gekratzt. Außerdem war das Leerkratzen von Stollen in anderen Ecken der Welt längst günstiger zu haben. Und während gleich um die Ecke in Duisburg-Ruhrort die größten organisierten Arbeitsniederlegungen in der Geschichte der Bonner Republik noch bevorstanden, begann sich der rheinische Kapitalismus etwas weiter ruhraufwärts noch ein letztes Mal zu häuten. Bochum ist wahrscheinlich die Stadt, in der und für die die sozialdemokratische Vision vom Strukturwandel erfunden wurde. Von der Bergmannstracht zum Monteurskittel zum …? Was würde man demjenigen geben, der dieser Tage in der Lage wäre, die Richtung zu weisen.
Opels Volkswagen
Als die Zechen längst röchelten wie die Lungen ihrer altgedienten, krank gearbeiteten Bergleute, entstand 1965 quasi aus einem akademischen Nichts heraus die Ruhr-Universität, ein futuristischer Neubau, der aus Stahlbeton gegossene Elfenbeinturm eines demokratisierten Bildungsideals. Und, bereits drei Jahre zuvor, das Opelwerk. Gemacht für zwischenzeitlich beinahe 15.000 Arbeiter und den wohl proletarischsten aller Wagen mit dem Blitz auf dem Kühlergrill: den Kadett. Opels Volkswagen, der es wohl in den späten Siebzigern zum meistverkauften Pkw Deutschlands gebracht hätte. Hätte man sich in Wolfsburg nicht gerade noch rechtzeitig den Golf ausgedacht.
Der Golf war weniger hemdsärmelig, eben schon mehr Dienstleistungsgesellschaft als der nach einem niederen Dienstgrad benannte Kadett, der bereits im eigenen Namen der Logik einer Klassengesellschaft verpflichtet war. Zur Markteinführung 1962 hießen seine großen Brüder noch Admiral und Kapitän. Beide liefen im Stammwerk in Rüsselsheim vom Band. Dort, wo Adam Opel 1862 eine Nähmaschinenfabrik gegründet hatte und wo seit 1898 Motorwagen produziert werden. Dort wo in diesen Tagen keine Räder stillstehen, weil es die südhessischen Arbeiter so wollen könnten. Höchstens, weil langsam die aus dem Bochumer Werk zugelieferten Motoren und Getriebe knapp werden.
Der Mythos einer Region
Es ist alles andere als zufällig, dass gerade die Beschäftigten in Bochum am vergangenen Donnerstag in einem Akt längst vergessen geglaubter Selbstbemächtigung ihre Arbeit niedergelegt haben. Und nicht die Beschäftigten in Rüsselsheim, gelegen in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens, gelegen im prosperierenden Dienstleistungsspeckgürtel Rhein-Main-Region. In Rüsselsheim gehört es längst zu den alltäglichen Erfahrungen, dass Erwerbsarbeit nicht mehr zwangsläufig industriell organisiert sein muss. Und das nicht nur, weil am dortigen Standort mehr Mitarbeiter in den Abteilungen Marketing, Forschung und Entwicklung der Marke Opel beschäftigt sind als in der eigentlichen Produktion der Vectra- und Signum-Modelle.
In Bochum aber kratzt die Krise eines global organisierten Autobauers einmal mehr am stolzen Mythos einer Region. Einer Region, in deren Selbstverständnis sich eben auch die großen Arbeitskämpfe der Achtzigerjahre eingebrannt haben. Waren es in den vergangenen Tagen nur jeweils gut 300 Arbeiter, die sich jeweils an den Werkstoren versammelt haben, so war die wirklich eindrückliche Erfahrung eine so kaum mehr erwartete Solidarität der Bevölkerung. Der Metzger aus Bochum-Wattenscheid, der mit einem Opel Kombi voller Fleischwurstbrötchen vorbeigekommen war. Die Mitglieder eines Opel-Clubs aus dem Bergischen Land, die ihre tiefer gelegten Astras den Arbeitern zur Seite gestellt hatten. Den Fußballschal, den ein Bochumer an den Werkszaun geknotet hatte. Darauf die Inschrift: „You’ll never walk alone“.
Gesang im Fackelschein
„Wenn das Ruhrgebiet röchelt, hustet ganz Nordrhein-Westfalen“, hat Wolfgang Clement einmal gesagt, als er noch Ministerpräsident dieses bevölkerungsreichsten Bundeslandes war. Dem mag vielleicht so sein. Und doch erkälten sich eben nur die, die der postfordistisch organisierte Umbau der Deutschland wie der General Motors AG im Regen stehen lässt. Die stehen dann vor einer dereinst als modernste ihrer Art gerühmten Automobilfabrik und singen im Fackelschein den „Holzmichl“: „Lebt denn das alte Opelwerk noch?“ Der Geist des Ruhrgebiets zumindest ist ziemlich lebendig in diesen Tagen.