Der Körper des Philosophen

Das Filmbild hat sinnliche Evidenz, die Dekonstruktion nicht. An diesem Widerspruch reiben sich Kirby Dick und Amy Ziering Kofman in ihrem Porträtfilm „Derrida“, der dem französischen Philosophen Jacques Derrida gewidmet ist

Dekonstruktion betreiben, sagt Derrida in „Derrida“, heißt, die Dinge nicht zu naturalisieren. Das muss den Filmbildern, vorsichtig ausgedrückt, unendlich schwer fallen: Beziehen sie ihre Glaubwürdigkeit gerade daraus, noch dem unwahrscheinlichsten Vorgang sinnliche Evidenz zu geben. In dem Maße, wie sie nach Kracauers Diktum der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ zugetan sind, sind die bewegten Bilder für eine philosophische Methode, die immerhin auf Abstraktion, Unkenntlichmachen und Zersetzung vorgeblich sicherer Gewissheiten aus ist, denkbar ungeeignet.

Derrida selbst hat sich in einem Interview mit den Cahiers du Cinéma deutlich genug dazu geäußert: „Die kinematografische Emotion kann keine Form des Wissens sein, nicht mal einer wirksamen Erinnerung.“ Kein Lehrfilm über die Dekonstruktion, kein Denkmal und Erinnerungszeichen für einen alternden französischen Philosophen – wenn Jacques Derrida dennoch seine Einwilligung gegeben hat, dass ein Filmteam ihn begleitet, muss der Grund anderswo zu suchen sein: „Sagen wir, dass das Kino erfunden werden musste, um ein bestimmtes Begehren des Bezugs zu den Phantomen zu erfüllen.“

Darin liegen das Dilemma und der Gewinn des Films: Einer begehrt zu filmen, ein anderer, gefilmt zu werden – aber beides lässt sich nicht zur Deckung bringen. Mehrere Jahre lang haben die Regisseure Kirby Dick und Amy Ziering Kofman das Objekt ihrer Begierde hartnäckig mit ihrem Wunschprojekt verfolgt, während Derrida sich zierte. Wie bringt man einen Philosophen zum Reden? Am Ende haben sie die Zusage bekommen, auf einer handgeschriebenen Postkarte, die jedoch nicht entziffert werden konnte.

„Ich nahm einfach an, er sage damit ja“, so Kofman. Ein kompliziertes, verflochtenes, vielfach gespiegeltes „Ja“: Mal verweigert Derrida eine Antwort, mal windet er sich auf Umwegen heraus, mal fügt er sich, nur, um früher Gesagtem direkt zu widersprechen. Am liebsten spricht er über seine Gründe, nicht zu sprechen. Sie liegen nicht in einer Furcht vor dem Anekdotischen. Schon zu Beginn weigert er sich, das Leben eines Philosophen auf die knappe Formel Heideggers zu reduzieren: „Er lebte, er dachte und er starb. Der Rest ist Anekdote.“ Der Körper des Philosophen ist kein empirischer Zufall, sagt Derrida, dem wir beim Friseur, beim Kochen, bei der Kleiderwahl zuschauen können. Erstaunlich zu sehen, welche Bedeutung ein Philosoph, dessen Texte als chronisch verkopft und undurchdringlich gelten, der Sinnlichkeit für sein Werk gibt. „Mein Genuss besteht nicht in erster Linie darin ‚die‘ Wahrheit zu sagen oder den ‚Sinn‘ der ‚Wahrheit‘, sie hält sich in der Inszenierung“, sagte Derrida gegenüber den Cahiers. Was würde ihn am Leben anderer Philosophen am meisten interessieren? – „Ihr Sexualleben.“ Darüber, wie er und seine Frau sich kennen gelernt haben, schweigen die beiden sich aus.

So liegt der eigentliche Charme des Films in dem, was Heidegger verachtet hätte: im Beiläufigen, in den Anekdoten. Die schönste erzählt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell über Derridas Mutter. Die beiden waren bei ihr zu Gast in Berkeley. Ronell schlug vor, den Abend mit einem besonderen Festakt zu begehen, schließlich war an diesem Tag zum ersten Mal die zentrale Vokabel der Philosophie Derridas – „différance“ – in den „Robert“, das maßgebliche Wörterbuch der französischen Sprache, aufgenommen worden. Die Reaktion der entsetzten Mutter: „Jackie! Seit wann schreibst du ‚différence‘ mit einem ‚a‘?“

DIETMAR KAMMERER