piwik no script img

Archiv-Artikel

„In dieser Gesellschaft gibt es einen massiven Antiislamismus“, sagt Herr Schiffauer

Die Debatte um das Kopftuch wird repressiv geführt. Eine aufgeklärte Gesellschaft sollte gelassener diskutieren

taz: Herr Schiffauer, wie sehen Sie als Ethnologe das Kopftuch in der moderne Gesellschaft? Schadet es nicht den Frauen, die es tragen?

Werner Schiffauer: Was heißt hier „schaden“? Das würde geschehen, wenn es tatsächlich zu einem Ausgrenzungsdiskurs führte gegenüber diesen Frauen. In den USA und in England ist es ein selbstverständliches Recht, ein Kopftuch zu tragen, und da ist es nicht schädlich. In England tragen Polizistinnen Kopftuch, und Sikhs tragen ihren Turban in der Armee. Nutzen und Schaden richten sich nach den Standards der Mehrheitsgesellschaft und dem herrschenden Diskurs.

Eine Frau mit Kopftuch gilt hier als unaufgeklärt, als Unterdrückte, als Opfer.

Nicht mehr. Seit der Kopftuchbewegung an den Universitäten der Türkei wird das Kopftuch auch als Zeichen der Emanzipation von einer bestimmten Gesellschaftsordnung verstanden.

Sie reduzieren das Kopftuch auf ein Symbol wie einst die lila Latzhose?

In einer pluralistischen Gesellschaft ist es nicht mehr. Es ist Ausdruck einer religiösen Grundüberzeugung und ein individualistischer Wert. Man kann mit dieser Sichtweise auch eine Konfliktlinie aus der Debatte herausnehmen. Das Kopftuch wird entdramatisiert. Wir müssen mehr Gelassenheit üben.

Kopftuch tragende Lehrerinnen sollten also an jeder Schule unterrichten dürfen?

Ja. Dies würde den Konflikt entschärfen und der Diskussion in den Migrantengruppen eine Chance einräumen, sodass man das Kopftuch nicht als Bekenntnis in die Anerkennungsdebatte der Mehrheitsgesellschaft einordnet, sondern die islamischen Mädchen diese Kopftuchdebatte selbst führen müssen.

Für viele drückt das Kopftuch ein längst überholtes Geschlechterverhältnis aus, das man hier nicht haben will: Muslimische Mädchen dürfen oft nicht zum Sportunterricht, nicht auf Klassenreise, es prägt ihr Verhältnis zum männlichen Geschlecht. Das Kopftuch einer Lehrerin ist für Kritiker mehr als ein gesinnungsgeschwängertes modisches Accessoire.

Solche Wertigkeiten sind bei der christlichen Rechten und in orthodox jüdischen Familien nicht anders. Ich habe den Eindruck, dass es in dieser Gesellschaft einen ganz massiven Antiislamismus gibt, der den Antisemitismus abgelöst hat. Und der Antiislamismus macht sich genau an solchen Sachen wie dem Kopftuch fest. Die Debatte wird repressiv geführt. Was mich ärgert, ist die Selbstgerechtigkeit dieses Antiislamismus, zum Beispiel, wenn in Baden-Württemberg explizit nur das Kopftuch der Lehrerin verboten werden soll. Man muss zu einer Position kommen, dass man gegenüber den Muslimen eine ähnliche Haltung von politischer Korrektheit einnimmt wie gegenüber der Frauenbewegung, aber auch gegenüber den Juden. Das wäre mein Wunsch. Es ist die Frage, wie viel Differenz eine Gesellschaft zulässt. Auch in der Sexualethik und der Sexualmoral.

Ich möchte auch nicht, dass mein Kind von einem aufgeklärten Lebenskundelehrer nackt unterrichtet wird.

Aber dann geht es um Grenzen und darum: Wer definiert was? Und da geht unsere Mehrheitsgesellschaft immer blauäugig von dem heutigen Stand aus. Sie ignoriert, dass sie selbst vor dreißig Jahren auf einem ganz anderen Stand war. Sie ignoriert auch, dass die eigenen Positionen ständig im Fluss sind. Die Gesellschaft fordert einfach von jeder Einwanderergruppe, die gegenwärtigen Schamgrenzen zu übernehmen. Das widerspricht meinem Gefühl für Fairness.

Wo ist die Fairness gegenüber den Mädchen, die zwischen einem konservativen islamischen Elternhaus und den Anforderungen dieser Gesellschaft aufwachsen? Was bieten Sie zur Konfliktlösung an?

Es gibt Konflikte. Wobei die Mädchen inzwischen ihre Schwierigkeiten eher als Ergebnis ihrer deutschen Umwelt schildern. Das belegen mehrere umfangreiche Studien zum Kopftuch. Die Mädchen sagen, dass sie das Kopftuch freiwillig genommen haben. Es gibt so viele, die sich dazu äußern, dass man schon den Eindruck hat, das ist mehr als ein Lippenbekenntnis. Und dann frage ich mich: Worin bestehen die Schwierigkeiten, wenn ein junges Mädchen meint: Ich will diesen Teil von Konsumkultur, dieses hier herrschende Verhältnis zu Frauen nicht mitmachen?

Es mag ein Vorurteil sein, aber diese Mächen wirken trotzdem indoktriniert, weil sie eben nicht immer die Freiheit haben, sich auch gegen das Kopftuch zu entscheiden.

Hätten sie die lila Latzhose an, würde man ganz anders auf sie schauen, obwohl sie zum Teil die gleichen ethischen Positionen wie damals die Frauenbewegung vertreten. Ich glaube, es kommt nur davon, weil das Kopftuch automatisch auf eine ganz bestimmte Weise gedeutet wird.

Weil es mit einem Zwang gegenüber Frauen assoziiert wird?

Möglich. Trotzdem würde ich gerne wegkommen von dieser aufgeladenen Debatte.

Wohin?

Zu mehr Gelassenheit und klaren Entscheidungen. Entweder wir machen eine Grundsatzentscheidung im Sinne des Republikanismus, dann schmeißen wir auch die Kruzifixe aus den Schulen raus, und zwar bundesweit. Oder wir entscheiden uns für eine gelassene Lösung, dafür, dass es der aufgeklärten Gesellschaft nicht schadet, wenn eine Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet.

INTERVIEW: EDITH KRESTA