: Die Stärke der Schwachen
Der irakische Widerstand gegen die Besatzer richtet sich auch gegen – aus westlicher Sicht – neutrale Hilfsorganisationen. Eine Folge des neuen, des asymmetrischen Krieges
Der antiamerikanische Widerstand im Irak ist härter, als die US-Administration erwartet hat. Der Kampf um die Zukunft des Irak scheint erst jetzt in seine entscheidende Phase einzutreten; er wird nun von der irakischen Seite mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf kriegsvölkerrechtliche Regelungen geführt. Der Anschlag auf das UNO-Hauptquartier war der Anfang, die Attacken auf die Einrichtungen des Internationalen Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen zeigen an, in welche Richtung dieser Krieg eskalieren wird.
Es ist nahe liegend, in dieser Situation die Selbstbeschränkung der US-Amerikaner bei der Auswahl ihrer Ziele und die exzessiven Terroranschläge des antiamerikanischen Widerstands gegeneinander zu stellen. Schon in der ersten Woche des Krieges im März hat Harlan Ullman, einer der Väter der Shock-and-awe-Strategie, den Generälen vorgeworfen, ihre Angriffe seien zu vorsichtig und der Bombeneinsatz sei zu zielgenau, um die angestrebten psychischen Effekte des Erschütterns und Einschüchterns zu erreichen. Wie sich zwei, drei Wochen später zeigte, waren die USA auch ohne massive Bombardements auf Bagdad in der Lage, das Regime zu zerschlagen und die Hauptstadt nahezu kampflos zu besetzen. Die Schreckensszenarien eines Straßen- und Häuserkampfes in Bagdad, wie sie von einigen Kommentatoren an die Wand gemalt worden waren, blieben auf deren Fantasie beschränkt.
Zweifellos haben die US-Generäle erhebliche Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommen, um ihre militärischen Ziele zu erreichen. Der irakische Widerstand dagegen zielt ganz bewusst auf zivile Einrichtungen und auf Personen, die mit dem militärischen Apparat der USA nichts zu tun haben. Sie nehmen nicht Verletzung und Tod von Zivilisten in Kauf, sondern sie greifen zivile Ziele gezielt und in voller Absicht an. Sie töten diejenigen, die ins Land gekommen sind, um der irakischen Zivilbevölkerung zu helfen, weil deren Scheitern ein Baustein ihres Erfolgs sein könnte. Sie führen einen buchstäblich totalen Krieg, in dem alles, was der Gegenseite von Nutzen sein kann, zum Ziel von Angriffen wird. Rechtliche Grenzziehungen sind dabei ebenso störend wie zivilisatorische Selbstbeschränkungen.
Man kann dies als einen Zivilisationsbruch bezeichnen, als Rückfall in Phasen, die wir längst hinter uns gelassen zu haben meinten. Man kann darin den Ausdruck einer Totalitarisierung der Kriegführung sehen, die keinerlei Formen von Neutralität und Unbeteiligtsein mehr akzeptiert und anerkennt. Oder man sieht darin den Zusammenstoß unterschiedlicher Gewaltkulturen, bei der die kriegsvölkerrechtliche Kultur des Westens, in der die Idee der Neutralität eine der wichtigsten Errungenschaften darstellt, auf der Gegenseite keinerlei Äquivalenz findet. Aber diese kulturalistische, ethisch grundierte Kritik ist letzten Endes gefährlich, weil aus ihr nichts anderes folgt als eine neue Stufe der Gegeneskalation. Die kann womöglich unvermeidlich sein, aber dann sollte sie aus strategischem Kalkül und nicht aus moralischer Erregung heraus erfolgen.
Was wir seit Beginn des 3. Golfkriegs am 20. März im Irak beobachten, ist das Aufeinandertreffen zweier asymmetrischer Strategien, einer Asymmetrie der Stärke bei den USA, einer Asymmetrie der Schwäche bei den Irakern. Beide folgen ihren je eigenen Gesetzmäßigkeiten. Für die Amerikaner dient die durch Distanzwaffen und Informationsherrschaft hergestellte Überlegenheit dazu, die eigenen Verluste zu minimieren. Postheroische Gesellschaften sind nur dann kriegführungsfähig, wenn sichergestellt ist, dass sich die eigenen Verluste in sehr engen Grenzen halten und der Krieg auf eine relativ kurze Zeitspanne begrenzt bleibt. Für einen symmetrisch agierenden Gegner würden dieselben Imperative gelten. Er hätte tendenziell gleichartige Fähigkeiten, aber auch ähnliche Schwachstellen, und so könnte man davon ausgehen, dass der Krieg innerhalb kurzer Zeit mit militärischen Mitteln entschieden würde.
Ein solch symmetrischer Gegner ist der Irak nicht. Darüber waren sich die Amerikaner im Klaren, denn sonst hätten sie den Waffengang gegen ihn nie gewagt. Symmetrische Kriege sind nämlich für das Militär immer überaus verlustreich. Das weiß keiner besser als die Europäer, die ihre Kriege auf dem Kontinent über mehrere Jahrhunderte nach den Prinzipien der Symmetrie geführt haben. Aber die Amerikaner, die sich auf die Möglichkeiten asymmetrischer Überlegenheit gegen den Irak verlassen und so einen schnellen Sieg auf dem Schlachtfeld errungen haben, haben übersehen, dass asymmetrische Kriege nicht zu Ende gehen wie symmetrische: mit der Kapitulation einer Seite, der Aufnahme von Verhandlungen, der Wiederherstellung eines stabilen Friedenszustands. Denn der im großen Krieg asymmetrisch Unterlegene bekommt nach dessen Ende die Chance, den Kampf auf niedrigem Niveau mit den asymmetrischen Mitteln der Schwäche weiterzuführen. Und die sucht er im Irak zu nutzen.
Die siegreiche Besatzungsmacht muss Gebäude sichern, Infrastruktureinrichtungen bewachen und die weiträumig aufgestellten Einheiten versorgen. Das macht sie für einen militärorganisatorisch und waffentechnisch unterlegenen Gegner angreifbar. Es ist die geringe Opfertoleranz postheroischer Gesellschaften, die einen seinerseits opferbereiten, also heroischen Gegner nun in eine Position relativer Überlegenheit bringt. Jeder getötete Soldat ist für ihn ein gewonnenes Gefecht. Und je länger es gelingt, die auf niedrigem Niveau durchgeführten guerillaähnlichen Operationen durchzuführen, desto besser werden seine Erfolgsaussichten. Die asymmetrische Strategie aus Schwäche zielt auf die beiden Ressourcen, die für hoch entwickelte Gesellschaften am knappsten sind: Opferbereitschaft und Zeit.
Eine solche Strategie macht vor Neutralen und humanitären Organisationen nicht Halt. Diese sind den asymmetrisch schwachen Akteuren dann ebenso ein Feind wie die bewaffneten Kräfte der im großen Krieg siegreichen Macht. Im symmetrischen Krieg, der durch den Ausgang der Kampfhandlungen entschieden wurde, konnte Neutralität durch Nichtteilnahme am Kampf und Nichtbeteiligung an der direkten logistischen Unterstützung der Kampfverbände definiert werden. So ist sie völkerrechtlich gefasst worden, und so hat sie relativen Bestand gehabt. Das gilt nicht für den aus einer Position der Schwäche heraus geführten asymmetrischen Krieg. In ihm muss Neutralität, wenn es sie denn überhaupt gibt, anders definiert werden: Sie wäre ein Unbeteiligtsein an der Stabilisierung der Nachkriegsordnung und damit auch an der Verbesserung der humanitären Lage.
Was wir gegenwärtig erleben, ist der Beginn einer neuen Form des Krieges, die sich den bisherigen kriegsvölkerrechtlichen Hegungen entzieht. Der Kampf dreht sich also auch um die Frage, wer die Definitionshoheit behält. Und dies ist wesentlich ein Kampf um den längeren Atem.
HERFRIED MÜNKLER