: Klingel zum Schlussakkord
Brüssel legt eine lange Mängelliste für alle EU-Beitrittskandidaten vor. Ihnen bleibt nur noch wenig Zeit, sie abzuarbeiten. Musterschüler ist Slowenien
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Der Sprecher von Erweiterungskommissar Günter Verheugen sprach gestern allen aus der Seele, als er sagte: „Das letzte Mal diese Prozedur, Gott sei Dank.“ Tatsächlich war es das gleiche Chaos wie immer, als die Kommission über den letzten Prüfbericht für die 10 im Mai beitretenden Länder und den Fortschrittsbericht für Bulgarien, Rumänien und die Türkei abstimmte.
Die Zahl türkischer Journalisten, die sich in unmittelbarer Umgebung des Pressezentrums der Kommission aufhielten, stieg um die Mittagszeit sprunghaft an. Während Günter Verheugen den türkischen Fernsehzuschauern bereits ins Stammbuch schrieb, dass sich die Türkei ohne Lösung der Zypernfrage keine Hoffnungen auf EU-Mitgliedschaft machen könne, warteten Trauben von Journalisten an den Pressetischen auf die druckfrischen Berichte. Das Fernsehen hatte die wilde Schlacht schon vorab gefilmt – mit den Berichten vom letzten Jahr.
Dann ging die Tauschbörse los: Wer zwei Texte auf Deutsch ergattert hatte, versuchte, ein französisches Exemplar einzuhandeln. Während viele Schlange standen, um ein Exemplar von Verheugens Redetext zu ergattern, sprach der Erweiterungskommissar, von den meisten unbemerkt, auf dem neben dem Pressetisch stehenden Monitor – die Rede des EU-Kommissars vor dem Europaparlament wurde live übertragen.
„Nirgendwo besteht Anlass zur Sorge, allerdings besteht überall die Notwendigkeit zu weiteren Fortschritten, vor allem damit unsere künftigen Mitgliedsstaaten noch stärker von den Vorteilen des Binnenmarktes profitieren können.“ Mit diesem salomonischen Satz fasste der Erweiterungskommissar die Berichte zusammen. Tatsächlich ist die Liste der weiterhin bestehenden Probleme ziemlich lang. Spitzenreiter ist Polen mit neun Bereichen, die der Kommission Sorge bereiten.
„Umweltverschmutzung und Naturschutzgebiete im Bereich Umwelt; der Schengen-Aktionsplan, Visumpolitik, Außengrenzen, die Bekämpfung von Betrug und Korruption und der Kampf gegen Drogen und gegen Geldwäsche im Bereich Justiz und Inneres“, heißt es lapidar im Bericht.
Auch sei der im Binnenmarkt geltende freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht ausreichend garantiert. Ernste Bedenken bestehen bei der Freizügigkeit von Personen „hinsichtlich der Vorbereitungen Polens auf die gegenseitige Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise, insbesondere Weiterbildungsmaßnahmen für bestimmte Berufe im Gesundheitswesen.“
Vor allem in der Landwirtschaft liegt dort noch vieles im Argen. Bei der Lebensmittelhygiene, dem Handel mit lebenden Tieren und tierischen Erzeugnissen, Tierschutz und Tierernährung sind die Standards laut Monitoring-Bericht nicht ausreichend. Die Verwaltungsstrukturen seien nicht an die Erfordernisse der EU-Agrarmarktordnung angepasst. Mit anderen Worten: Polen kann nicht garantieren, dass die Subventionen aus Brüssel ordnungsgemäß vereilt und kontrolliert werden.
Dieses Problem haben die anderen Länder auch. Ihre Problemliste ist viel kürzer, am kürzesten die Sloweniens, doch überall fehlen Verwaltungen, die das Geld aus Brüssel verantwortungsvoll ausgeben könnten. Dass die Absorptionsfähigkeit der neuen Mitgliedsländer längst nicht ausreicht, um die für die kommenden Jahre eingeplanten Mittel sinnvoll auszugeben, war auch in den vorangegangenen Berichten kritisiert worden. Gerade Polen hatte aber in den Abschlussverhandlungen vergangenen Dezember in Kopenhagen bis zur letzten Minute um jeden zusätzlichen Euro aus Brüssel gefeilscht.
Bulgarien und Rumänien dürften mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, dass die Kommission das Beitrittsdatum 2007 für erreichbar hält. Weniger gut sind die Nachrichten für die Türkei. Verheugen lobte zwar „die beeindruckende Entschlossenheit“ beim Reformtempo, doch beim Justizsystem, der Meinungsfreiheit und dem Minderheitenschutz hapere es in der Umsetzung.
Im Herbst 2004 wird die EU-Kommission eine Empfehlung abgeben, ob der Rat im Dezember nächsten Jahres Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen soll. Grundlage dafür ist wieder ein Fortschrittsbericht. Die Schlacht am Pressetisch wurde also gestern keineswegs zum letzten Mal geschlagen.