Ein Haufen von Ich-AGs

Mit dem 1:2 gegen Olympique Lyon gewinnt die Krise der von allen guten Teamgeistern verlassenen Bayern beträchtlich an Wucht. Schon wieder droht das frühe Aus in der Champions League

aus München THOMAS BECKER

Gespenstische Szenen im Münchner Olympiastadion. Im Minutentakt treten sie vor die Masse der Berichterstatter, die Politiker des FC Bayern: Vorstandschef Rummenigge, Manager Hoeneß, Mannschaftskapitän Kahn, allesamt gefasst und konzentriert bis obenhin, das Ego runtergeschluckt, das Vereins-Gen aktiviert, und los geht’s, Stellung beziehen. Fast übernatürlich ruhig, wie von einem Mittelchen des Leverkusener Sponsors runtergedimmt wirken sie dabei, selbst die Heißblüter Kahn und Hoeneß. Diesmal entweicht kein unbedachtes Wort. Die Botschaft: Wir vom FC Bayern haben immer alles im Griff, selbst unsere eigene Krise. Denn dass man mittendrin in einer solchen steckt, leugnet nach dem 1:2 gegen Olympique Lyon und dem erneut drohenden Vorrundenaus in der Champions League niemand mehr.

Der Aufmarsch der Bosse verdeutlicht, welches Ausmaß die Krise angenommen hat. Keiner der Spieler wird vor die Mikros gelassen (Kahn muss man zur Vereinsführung zählen) – zu gefährlich. Am Vortag hatte Willy Sagnol einer französischen Zeitung vorgejammert, wie aggressiv und erfolgshungrig das Team von 2001 war und wie sehr Stefan Effenberg als Leader fehle. Gefragt, ob ihn Ballack denn nicht ersetzen könne, sagte Sagnol: „Nein, überhaupt nicht.“ Sagnol steht im Team nicht allein mit dieser Meinung.

Wie wenig Mannschaft der FC Bayern derzeit ist, war in der „indiskutablen zweiten Halbzeit“ (Hitzfeld), nach dem einzigen, dafür aber sehr großen Auftritt von Giovane Elber: das klassische Ausgerechnet-Tor. 133-mal hatte er für die Bayern getroffen, 21-mal in der Champions League – sein 22. Treffer tat den Münchnern besonders weh. „Das hat die Beine gelähmt, das war ein Schock“, gab Hitzfeld später zu, „nicht nur, dass das 2:1 fiel, sondern dass es durch Giovane fiel. Danach sind wir auseinander gefallen, haben Nerven gezeigt. Man hat gesehen, dass einige Spieler dem Druck nicht gewachsen sind.“ Eine harte, aber treffende Zustandsbeschreibung, die Hitzfeld gestern sogar verschärfte: „Ich habe meine Mannschaft noch nie so schlecht gesehen“. Die einfachsten Pässe seien nicht angekommen, die Flanken schon am ersten Mann hängen geblieben, dazu eine viel zu hohe Fehlerquote auch in der Defensive. Alles richtig, aber nicht Kern des Problems. Franz Beckenbauer kam diesem schon näher: „Denen fehlt der Spaß.“

Der FC Bayern 2003 ist eine Ansammlung von Ich-AGs, eine Patchwork-All-Star-Truppe ohne das, was in früheren Generationen Teamgeist hieß. Mehr als eine halbe Stunde Zeit blieb nach dem 1:2 – nicht nur Hoeneß wunderte sich, dass „wir danach mehr oder weniger ohne Torchance geblieben sind“. Außer Kahn schien sich niemand gegen die Niederlage wehren zu wollen, keiner krempelte die Ärmel hoch. War ja auch kalt. Eine geballte Faust, ein aufmunterndes Wort für den Mitspieler? Nö, du, lass mal! Die Fans schrien: „Wir woll’n die Eier sehn.“ Ballack gab einen Führungsspieler im Standby-Modus, trabte auch noch in den allerletzten Sekunden so entspannt übers Feld, als stände es 4:0 statt 1:2. Neben ihm: Demichelis, Ze Roberto – auch nicht gerade die Erfinder des temperamentvollen Aufputschens, von Santa Cruz oder Makaay ganz zu schweigen. Einige derer, die diese unverzichtbare Mitreiß-Arbeit seit Jahren praktizieren, sitzen nur noch auf der Bank: Linke, Scholl, Jeremies. Viel zu spät wechselte Hitzfeld die letzten beiden ein. Kritik an Ballack ließen weder Trainer noch Manager zu – Artenschutz für die große Hoffnung des FCB.

Wie geht’s weiter? Am Sonntag kommt mit Dortmund „die Gelegenheit, sich für das heutige Ausscheiden zu rehabilitieren“, wie Hitzfeld sagte – bevor er den Versprecher eilig korrigierte. Verliert Bayern am 25. November bei Celtic Glasgow und gewinnt Lyon in Anderlecht, hat sich die Rechnerei erledigt: Dann sind die Bayern raus aus der Champions League, noch vor der letzten Partie zu Hause gegen Anderlecht. Bis dahin gelte es Kräfte zu sammeln, die Angst und Verkrampfung abzulegen, sagt Kahn. „Es ist an der Zeit, sich mit den Problemen auseinander zu setzen. Wir müssen uns mit uns selbst intensiv beschäftigen, dürfen keine Alibis suchen.“ Gelegenheit dazu bekommen die Spieler ab morgen im Trainingslager am Tegernsee. „Wir werden uns zweieinhalb Tage kasernieren“, kündigte Hitzfeld an.

Erste Spekulationen um die Haltbarkeit seines Trainerstuhls machen schon die Runde. Hitzfeld weiß nur zu gut, dass „wir jetzt mit großen Gewittern rechnen müssen“ und empfiehlt seinen Spielern, „nicht zu weit in die Zukunft zu blicken und am besten überhaupt keine Zeitung zu lesen“. Könnte ja zum Beispiel drinstehen, dass Celtic seit 63 Pflichtspielen zu Hause ungeschlagen ist.

Bayern München: Kahn - Sagnol (72. Scholl), Kuffour, Kovac, Lizarazu - Salihamidzic, Demichelis (72. Jeremies), Ballack, Ze Roberto - Pizarro (67. Santa Cruz), MakaayOlympique Lyon: Coupet - Reveillere, Edmilson, Müller, Berthod - Essien (77. Govou), Juninho (90. Carriere), Diarra, Malouda - Elber (78. Cacapa), Luyindula Zuschauer: 59.000; Tore: 0:1 Juninho (9.), 1:1 Makaay (14.), 1:2 Elber (53.)