: Fliegender Rollenwechsel
René Pollesch eröffnet den renovierten Prater mit „Ein Chor irrt sich gewaltig“ und bereitet der hinreißend komischen Sophie Rois als unumstrittener Diva die Bühne
À quell’amor. Ach, wie der Prater bei seiner Wiedereröffnung von der Liebe sämtlicher Szene-Theatergänger durchströmt wird! Das heiß ersehnte Wiedersehen nach einer entbehrungsvollen Phase der Trennung: Die Nebenspielstätte der Volksbühne öffnet nach langer Renovierungspause für René Polleschs „Ein Chor irrt sich gewaltig“ wieder den Vorhang.
Der ist blümchengemustert, genau wie die Sitzkissen auf den Zuschauerbänken in dem noch unfertigen, aber schon durch und durch charmanten Pratersaal, in den man jetzt direkt von der Kastanienallee gelangt. Überm Eingang glittern die Lettern, im Foyer herrschen Retrotapete und Rohholz.
Auf der Bühne herrscht die hinreißend komische Sophie Rois als unumstrittene Diva in boulevardeskem Setting. Wie eine wiederbelebte Rosa Luxemburg (in schwarzem Miederkleid und Dutt) switcht sie in postdramatisch fliegendem Rollenwechsel zwischen verschiedenen Figuren aus Yves Roberts Seitensprungkomödie „Ein Elefant irrt sich gewaltig“ wie zwischen Filmstoff und politischem Diskurs hin und her. Dazu stampft sie mit dem Besen auf, wuchtet die Hände in die Hüfte, stürmt durch den sich bauschenden Vorhang und fuchtelt alles in die hysterische Übertreibung. Wahlweise entrüstet sie sich über die entlaufene Ehefrau, die ihr die Möbel wegnimmt und die Kinder aufhalst, und über die Männer, die sie „abschließend genießen“, also bloß Sex wollen. Und immerzu bringt sie eine übergroße Empörung über Gesellschafts- und Liebesverhältnisse auf die Bühne.
Zwischendurch zerstampft Christine Groß Croissants und mithin Franzosenklischees, während Brigitte Cuvelier alle mit Ausspracheübungen terrorisiert. Und einen Chor gibt’s diesmal auch: eine ebenfalls rollenwechselfreudige Frauentruppe in Rokokokostümen aus afrikanischen Stoffen, die mal als „Ehe-Chor“, mal als Jungliebhaber fungiert. „Ihr tretet auf und tut so, als könntet ihr für alle reden!“, donnert Rois ihm seinen titelgebenden Irrtum entgegen. Womit der Autor-Regisseur sie gegen einen seiner Lieblingsfeinde wettern lässt: gegen das Repräsentationstheater, in dem – sehr vereinfacht mit Pollesch gesprochen – ein Schauspieler so tut, als sei er eine Figur und könne als solche stellvertretend für die sich mit ihr identifizierenden Zuschauer sprechen. Nebenbei polemisiert er damit auch gegen das wuchtige Chor-Theater Volker Löschs, das real Benachteiligte auf die Bühne bringt.
Vor allem torpediert Pollesch an diesem Abend aber einmal mehr das große Gefühl, die im Kapitalismus nur unter Ausbeutungsverhältnissen zu denkende Liebe und die „öde Insel Sexualität“, auf die man sich dabei verbannt sieht. In einer grandiosen „La Traviata“-Verulkung schart sich der Alfredo-Chor um Violetta-Rois: Während sie auf allen vieren zu entkrabbeln versucht, holt sie die besitzergreifende „Amore“-Welle immer wieder ein.
Auch wenn die Filmdialoge Gefühlsausdruck erfordern, wird – zack – der Kopf zur Seite geworfen und mit französischem Chansonmix auf Karaoke gemacht, was nicht nur auf das Künstlich-Geliehene vermeintlich authentischer Gefühle verweist, sondern naturgemäß den Unterhaltungswert des Abends steigert. Und so schluckt man quietschvergnügt die nicht eben durchschlagend neuen Wahrheiten, die der Meister einem vor die verblendeten Augen hält. Es bleibt das auch diesem Pollesch-Abend innewohnende Paradox, dass er bisweilen produziert, was er eigentlich verneinen will: zum Beispiel eine alleinherrschende Hauptdarstellerin in einer bestens konsumierbaren Inszenierung – und natürlich ganz viel Liebe! ANNE PETER