Jugendtraum, jetzt

Horst Grützner hat das ehemalige Glaslager gebaut, in dem heute die Berlinische Galerie eröffnet wird. Heute lebt er als Kleinrentner und Kleinschauspieler in Lichtenberg. Ein Porträt

VON JÖRG SUNDERMEIER

Er ist ein Aktivist. Im besten Wortsinn: Man trifft ihn überall. Kennen gelernt habe ich ihn als Begründer der Karl-Kraus-Gesellschaft. Er engagierte sich damals sehr für das Bücherverbrennungs-Denkmal unter dem Bebelplatz, wir organisierten eine Lesung von verbrannten Dichtern. Sie war nicht gut besucht, Grützner hat das nicht gestört. Später traf ich ihn bei einer Demonstration gegen Antisemitismus. Dann immer öfter, wenn es irgendwo um Politik und Kultur ging. Politisches Engagement, das liegt ihm im Blut.

Horst Grützner arbeitet höchst zuverlässig. Er kommt stets mit dem Fahrrad. Und immer pünktlich, „eine schreckliche deutsche Unart an mir“. Grützner ist nicht reich. Obschon er als Architekt erfolgreich war. Das ehemalige Glaslager, in dem heute die Berlinische Galerie eröffnet wird, ist seine Arbeit. Es ist sein einziges Bauwerk in Berlin. Ein Entwurf für die Topographie des Terrors, mit dem er an dem ersten internationalen Wettbewerb 1983 teilnahm, ist wie alle anderen 193 Arbeiten in der Schublade verschwunden.

1928 wurde Grützner in Bremerhaven geboren, damals hieß es noch Wesermünde. Er wollte Schauspieler werden, doch sein Vater, selbst Musiker und Komponist, sagte ihm, dass er erst mal „was Ordentliches“ lernen sollte. Grützner wurde also Zimmermann. Dann holte er die Hochschulreife nach, studierte Architektur und machte sich 1956 als Architekt selbstständig, ein Jahr später gründete er mit einem Studienkollegen das Büro Architekten BDA Grützner & Gestering in Bremerhaven. „Es waren die Aufbaujahre“, sagt Grützner, „die Aufträge, auch von gewonnenen Wettbewerben, kamen schnell.“ Unter anderem realisierte er mit seinem Kollegen ein Glaslager in Bremerhaven, für die EVG, die Ein- und Verkaufs-Genossenschaft Selbstständiger Glasermeister Deutschlands. In diesem Gebäude wurde eine Unmenge Glas verbaut, selbst die Treppen waren aus Glas. „Nun, die jungen Damen, die hinter gläsernen Wänden tippen, werden nicht mit Steinen werfen“, ulkte die Nordsee-Zeitung 1961. Die Bundesgeschäftsführung der EVG war so angetan, dass sie an das junge Architektenbüro einen weiteren Auftrag vergab – ein Glaslager in Berlin, in der Alten Jakobstraße 123–128.

Das Lager musste zugleich einen Teil der „Senatsreserve“ an Glas bergen können. Was der Berlinischen Galerie den Vorteil verschafft, nun ein weiträumiges Magazin unter ihren Ausstellungsräumen zu haben. Grützner entwarf das Gebäude, die Verwaltungsbauten zur Straße hin wurden allerdings nur teilweise gebaut. Als das Gebäude 1968 fertig war, war die Architektengemeinschaft zerbrochen, sein Partner ging eigene Wege. Zur Einweihung kam Grützner zu spät. „Ich hatte damals ein Telefon in meinem Auto, ein Riesenapparat im Kofferraum dazu. Es funktionierte gar nicht, doch die Grenzer in Helmstedt machten Ärger. Und vor Berlin wollten sie es ausbauen. Ich habe gerufen ‚Ich will sofort Ihren Postminister sprechen‘, und da haben sie mich ziehen lassen. Mit solchen Kommissköppen musst du vehement sein!“

1997 hat Grützner das Architektendasein aufgegeben. Wegen rund 500.000 DM, die er bei seinen Schuldnern nicht einholen konnte. Zudem war in das Berliner Büro – er hatte drei Standorte, Bremerhaven, Neustrelitz und Berlin – eingebrochen worden. Er entließ seine zwölf Angestellten und zog nach Lichtenberg, in „die Nähe von Rosa und von Käthe Kollwitz“. Dort lebt er nun als Kleinrentner. Und als Kleinschauspieler und Statist.

„Ich konnte mir meinen Jugendtraum erfüllen“ ruft er. Neben der Pflege seiner weiteren „wahren Leidenschaften“ wie der Literatur – noch immer lädt die Karl-Kraus-Gesellschaft zu Lesungen ein – darf er nun schauspielern. Er hat in Kinderserien wie „Löwenzahn“ und „Siebenstein“ kurze Auftritte gehabt, hat an der Schaubühne, im Gorki und den Sophiensälen gespielt und ist gerade mit kleinen Rollen im Deutschen Theater zu sehen, in „Salome“ und „4 Millionen Türen“. Die politische Bühne hat er verlassen. Er hat für die Grünen in der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven gesessen, später dann Kulturarbeit bei der PDS im Roten Laden in Friedrichshain gemacht. Heute sind ihm beide Parteien zuwider: „Da kann man doch nicht mehr mitmachen.“

Auch der Stadtforschung widmet er sich. Bei einer Pressekonferenz lernte er den Leiter der Berlinischen Galerie kennen, und siehe, Jörn Merkert und Grützner waren in Bremerhaven auf der gleichen Schule. „Es gibt keine Zufälle“, sagte Merkert. Er lud Grützner ein, im Umfeld der Berlinischen Galerie mitzuarbeiten, und Grützner half dann beispielsweise, als ein Nachfahre einer jüdischen Familie aus London sich meldete, deren Haus früher auf dem Gelände war. Grützner recherchierte die Geschichte des Geländes. Wie zum Beweis legt er alte Stadtpläne vor, mit denen er seinerzeit, als er sich an dem Topographie-Wettbewerb beteiligt hatte, gearbeitet hat. Er zeigt, wo das ehemalige Jüdische Theater war, das zuletzt von jenem Fritz Wisten geleitet wurde, der nach den Nazis, im September 1945 mit einer Inszenierung von „Nathan, der Weise“ das Deutsche Theater wiedereröffnete.

„Das ist deutsche Geschichte!“ Er hat Wistens Grab auf dem Waldfriedhof Zehlendorf aufgesucht, er hat lange suchen müssen, bis er es gefunden hat. Und ist ergriffen: „Im nächsten Jahr ‚nullt‘ sich dieses Ereignis und deswegen arbeite ich daran ein wenig. Und da stehe ich auf der gleichen Bühne als Kleindarsteller!“ So hat sich für ihn wieder ein Kreis geschlossen.