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Archiv-Artikel

Der Fehlalarm von Heide

Meister der Polizeiprosa: Ein Ordnungshüter an der Nordseeküste ist der neue Emile Zola

Von MIR

„Heide (ots) – Beamte der Polizei-Zentralstation Heide wurden am Dienstagabend, 19. Oktober, 20.43 Uhr, zu einer Alarmauslösung in einem Großmarkt in der Straße Am Kleinbahnhof in Heide gerufen. Zwei Streifenwagen eilten zum Einsatzort, schließlich muss man zunächst einmal davon ausgehen, dass ein Einbruch bzw. ein Einbruchsversuch vorlag. Bei der Annäherung an das Objekt bzw. der Inaugenscheinnahme entdeckten die Beamten dann frische Blutspuren in einer größeren Menge. Hatte sich da evtl. ein Einbrecher bei der Tatausführung verletzt? Trotz intensiver Absuche konnten aber keinerlei Einbruchsspuren entdeckt werden. Parallel dazu lief natürlich die Benachrichtigung eines Schlüsselträgers/Verantwortlichen der Firma, allerdings dauerte das Eintreffen eine geraume Zeit. In der Zwischenzeit wurde auch Nachfrage beim Westküstenklinikum Heide gehalten, ob denn dort eine Person mit einer Schnittverletzung eingeliefert worden sei. Das war aber nicht der Fall. Nachdem dann der Marktleiter eingetroffen war, wurde noch einmal eine gemeinsame Nachschau gehalten. Bezüglich des Blutes gab es dann auch die Auflösung: Der Markt hatte am Nachmittag eine Frischfleischlieferung bekommen. Das Fleisch war dann offenbar so frisch, dass noch das Blut heraustropfte. Die Ursache der Alarmauslösung konnte nicht festgestellt werden. Es handelte sich somit um einen Fehlalarm. Günter Santjer.“ (dpa-Meldung vom 20. 10. 2004, 10.25 Uhr)

Günter Santjer schreibt Polizeimeldungen. Für die Polizei von Heide. Die größte Polizeistation im Kreis Dithmarschen, Schleswig Holstein. „Ihre Einkaufsstadt an der Westküste“, lautet der Reklamespruch, mit dem das verschlafene Städtchen für sich wirbt. Das Marketing haben sie in Heide nicht erfunden, sonst würden sie den bedeutendsten Sohn der Stadt nicht verschweigen: den Emile Zola von Heide, den Dichter unter den Polizisten, den größten Naturalisten, den die Nachrichtenagenturen je hervorbrachten: Günter Santjer.

Bis zu vier Meldungen senden die Nachrichtenagenturen pro Minute über die Ticker. Aus allen Bereichen. Für alle Ressorts. Darunter viele Polizeimeldungen aus ganz Deutschland. Mal als Fahndungsaufruf, mal als Erfolgsmeldung über aufgeklärte Fälle. Polizeimeldungen sind meist stumpfe Behördentexte, von vergilbten Beamtenhirnen in die ordnungsgemäße Rechtschreibform gebracht. Allerdings sind die Ausnahmen nicht weniger schlimm. Berühmt-berüchtigt ist die Pressestelle der Polizei Bochum, die am 7. September 2004 mit dem offenbar eigens für sie erfundenen, weil erstmals vergebenen Preis „Ruhrfeder 2004“ ausgezeichnet wurde für ihren angeblich originellen Stil, mit dem sie Kriminalfälle beschreibt.

Aber was ist Bochum gegen Heide? Nichts reicht an Günter „Zola“ Santjer heran. Minutiöse Milieustudien und ein spannender Kolportagestil prägen sein Werk. Wie die obige Meldung über den vermeintlichen Einbruch in einen Großmarkt zeigt, entwickelt Günter Santjers gerade aus dem Nichtgeschehen Höhepunkte seines ästhetischen Schaffens. Ein Polizeidichter im Olymp. Auch wenn hinter der nackten Meldung das eiskalte Kalkül eines etatbewussten Beamten steckt. Denn die Fehlalarm-Meldung wurde über den Originaltextservice (ots) der Nachrichtenagentur dpa deutschlandweit verbreitet. Das kostet pro Meldung 290 Euro, die die Polizei von Heide offenbar bezahlt hat, um Santjers Kriminalgeschichte in die Welt hinauszuschicken.

Dabei sind 290 Euro für diesen Lesegenuss fast noch zu wenig. Hätte man jedoch für die Meldung kein Geld ausgegeben, wäre die Summe im Etat der Behörde wohl verfallen. Es geht nämlich auf das Ende des Jahres zu, und wie in allen Behörden werden nun auch dort die Kosten überprüft. Offenbar gibt es selbst bei der Polizei von Heide einen Haushaltsposten für Pressearbeit, auch wenn die Stadt an der Nordseeküste nicht gerade vom Verbrechen heimgesucht wird. Dort überfährt Mutti höchstens mal im Morgennebel den Kater ihres Nachbarn.

Wenn ein Etat allerdings nicht bis zum Limit genutzt wird, streichen Vorgesetzte gern mal kaum beanspruchte Posten: „Pressearbeit? Wozu braucht ihr Geld für die Pressearbeit?“ Und die Welt wäre um den Genuss der Polizeiprosa aus Heide gebracht. Dagegen kämpft ein großer Dichter. Danke, Günter Santjer. MIR