: Zwei, drei, viele Europas
Zeigen Ehebruch-Debatten und Ehrenmorde, dass die Türkei nicht nach Europa gehört? Tatsächlich gelten in der EU in vielen Fragen bis heute unterschiedliche Maßstäbe
Mary, volljährig, aber unverheiratet, hatte im Irland der 1980er-Jahre eine Affäre, die der Dorfgemeinschaft zu Ohren kam. Ihre schamgebeugten Eltern brachten sie daraufhin in ein Heim für gefallene Mädchen, eingerichtet von der katholischen Kirche im Namen der Heiligen Magdalene. Eine Besserungsanstalt, die aus Frauen Leibeigene machte: als lebenslängliche Buße für ihre Sünden schufteten etwa 30.000 Frauen ohne Lohn in den Wäschereien des Sankt-Magdalenen-Ordens. Ein Zustand, den der irische Staat und die irische Öffentlichkeit jahrzehntelang stillschweigend akzeptierten. Bis 1996. Da war Irland bereits 23 Jahre Mitglied der Europäischen Union.
Noch heute, 31 Jahre nach EU-Beitritt, ist es in Irland die Gewissensentscheidung eines Arztes, ob er einer Frau die Antibabypille verschreibt. Schwangerschaftsabbruch ist verboten und Ehescheidung nur aufgrund von handfesten Gründen sowie nachgewiesenem getrenntem Wohnsitz für mindestens vier Jahre möglich.
Im Italien der 1970er-Jahre hatte Maria, ebenfalls volljährig, aber unverheiratet, auch eine Affäre. Ihre Familie empfand das als Schande und ermordete sie. „Ehrenmorde“ wie dieser wurden in Italien damals toleriert, das heißt, der Mörder hatte nicht mehr als bis zu drei Jahren Gefängnis als Höchststrafe zu befürchten. Italien ist Gründungsmitglied der 1951 gegründeten „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, dem Vorläufer der EU. 1957 wurde daraus mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1967 die Europäische Gemeinschaft, 1991 die Europäischen Union.
Heute gibt sich die EU eine Verfassung als gemeinsame politische Grundlage, auf die sich alle Mitglieder und auch die Beitrittskandidaten verpflichten müssen. „Die Union steht allen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen.“ So steht es im Artikel 1, Absatz 2 des Verfassungsvertrags für Europa. Die EU soll eine Wertegemeinschaft sein. Aufgezählt werden die Werte, welche Europa konstituieren, in Artikel 2: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.
Die Gesellschaften der Mitgliedstaaten zeichnen sich laut Verfassungsvertrag aus durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung. Am 6. Oktober wird die EU-Kommission den Bericht vorlegen, der nachweisen soll, dass die Türkei Teil der Wertegemeinschaft Europa werden kann – und reif ist für den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Wie passen dazu die aktuellen türkischen Diskussionen um Folter, die Strafbarkeit von Ehebruch und Ehrenmorden oder die Diskriminierung von Minderheiten und Religionsgemeinschaften?
Manche führende europäische Politiker sprechen der Türkei ganz grundsätzlich eine „europäische Identität“ ab. Von der EU reden sie, als sei die Union eine Religionsgemeinschaft, in die ein muslimisches Land nicht passe. Mal davon abgesehen, dass es in der EU bereits heute mehr Muslime gibt als Holländer: Es werden auch berechtigte Fragen gestellt. Zum Beispiel: Verkraftet die EU den Beitritt der Türkei, finanziell wie politisch? Nachdem gerade zehn neue Länder in die EU kamen, denen 2007 wahrscheinlich Rumänien und Bulgarien folgen?
Bei der Diskussion um den Türkeibeitritt kann jeder mitreden. Was bei dieser meist emotionalen Debatte verloren geht, ist die Tatsache, dass in der EU für alle Länder die gleichen Maßstäbe gelten. Man muss also fragen: Wie passt es in die uns Europäer einende Wertegemeinschaft, dass das Recht auf Leben oder Tod innerhalb der EU schon heute so unterschiedlich gewertet wird? In den Niederlanden zum Beispiel ist es Entscheidung der Frau, ein Kind auszutragen oder nicht, in Portugal ist ein Schwangerschaftsabbruch nur bei Vergewaltigung, schweren gesundheitlichen Risiken für die Mutter oder Missbildung des Fötus erlaubt. Sterbehilfe darf nur in wenigen Ländern gewährt werden, etwa in Belgien oder den Niederlanden.
Oder: Wie steht es mit der Freiheit? Aufklärung durch Sexualunterricht, eine der Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft, ist zwar mittlerweile in fast allen EU-Ländern gesetzlich vorgeschrieben, wird vielerorts aber schlichtweg nicht erteilt. Ebenso ist Religionsunterricht für muslimische Schülerinnen und Schüler an öffentlichen Schulen, so wie er in einigen Schulen der Bundesrepublik zur Zeit eingeführt wird, in vielen EU-Staaten undenkbar. In Frankreich dürfen religiöse Symbole wie Kopftücher nicht in Schulen getragen werden; ähnlich steht es in der Türkei; in Deutschland herrscht Uneinigkeit.
Und Diskriminierung? Wer erinnert sich heute noch, dass in der Bundesrepublik erst 1973 ein Gesetz verabschiedet wurde, mit dem die Strafbarkeit von Ehebruch, von Gotteslästerung, sowie von Homosexualität unter Erwachsenen gestrichen wurde? Mittlerweile ist Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner in vielen EU-Mitgliedstaaten wie Schweden erlaubt. Der Christopher-Street-Day soll jährlich an die Gleichberechtigung und gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Homosexuellen erinnern. Seine Durchführung wurde vom Warschauer Bürgermeister verboten.
Es stimmt: Die Türkei kann nicht Mitglied der heutigen EU werden. Denn die heutige EU ist keine Demokratie. Sie hat ein Parlament, das immer noch keine Gesetze auf den Weg bringen kann und stattdessen einen Reisezirkus zwischen Brüssel und Straßburg veranstaltet. Hinzu kommen eine Bürokratie, die dem Demos nicht verantwortlich ist, aber unglaubliche Macht besitzt, und Kungelrunden nationaler Minister, bei denen hinter verschlossenen Türen Entscheidungen getroffen werden, die das Leben aller Europäer beeinflussen. Zudem leiste sich die EU bis heute ein Finanzsystem, das von vorgestern ist – etwa mithorrenden Agrarsubventionen, die Armut in der Welt schafft. Auch hier würde die Türkei nicht passen, da sie in ihrer agrarischen Struktur enorme Subventionen erhielte, was das System sprengen würde.
Tatsächlich gibt es es schon längst, das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Nur zwölf EU-Staaten haben den Euro eingeführt. Nur 13 Mitgliedsländer haben sich dem Schengener Abkommen angeschlossen, welches die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abbaut. Einige EU-Staaten wollen eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung einführen, fünf wollen eine gemeinsame Grenztruppe gründen.
Die Unterschiedlichkeit der Geschwindigkeiten in der Europäischen Union wird mit jeder neuen Erweiterung zunehmen. Was für eine EU dabei entstehen wird, ist noch nicht absehbar. Sicher ist: Es wird aber nicht mehr das Prinzip der einzigen, vollen Mitgliedschaft geben. Dafür werden einige EU-Mitgliedsländer stärker als andere in der Integration vorangehen. In ein solches Europa passt dann auch die Türkei. SILVANA KOCH-MEHRIN