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Archiv-Artikel

Das Wunder am Bosporus rückt näher

Bei ihrem Treffen in Istanbul informiert sich die Fraktion der europäischen Grünen über den Stand des Reformprozesses in der Türkei. Schon die Veranstaltung an sich sowie deren offener Charakter verweisen auf grundlegende positive Veränderungen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es war ein Satz, der immer wieder auftauchte und der die Veranstaltung der europäischen Grünen-Fraktion in Istanbul am besten beschreibt: „Wer hätte noch vor ein paar Jahren gedacht, dass so ein Treffen an diesem Ort möglich werden würde.“

Wer hätte gedacht, dass jeder jetzt ungeschützt und offen hier reden kann, erklärte Orhan Pamuk, einer der bekanntesten Schriftsteller der Türkei. Er jedenfalls fühle sich angesichts der Veränderungen im Land und unter dem Schutzschirm der EU sicher und frei, alles zu schreiben und zu sagen, was er denke. Oder Osman Baydemir, kurdischer Bürgermeister von Diyarbakir, der feststellte, dass noch vor fünf Jahren eine Veranstaltung wie diese, wo er offen über die kurdische Frage reden könne, kaum denkbar gewesen wäre.

Oder als am Mittwochnachmittag im Pulk ihrer Sicherheitsleute der deutsche und der türkische Außenminister gemeinsam in den Saal gedrängt wurden, wo sie, launig moderiert von Dany Cohn-Bendit, im gemeinsamen Ziel einer türkischen EU-Mitgliedschaft vereint, über Chancen und Risiken auf dem langen Weg dahin sprachen.

Das alles auf einer Veranstaltung der Grünen, einer Partei, die vor ein paar Jahren in der Türkei angegriffen wurde, weil sie den Krieg gegen die kurdische PKK kritisierte und die wechselnden Regierungen in Ankara für ihre Kurdenpolitik scharf angegriffen hatte. Wenn heute Cohn-Bendit verkündet, der Weg des Landes in die EU führe über Diyarbakir, die Metropole im kurdischen Südosten, erregt das außer einigen Nationalisten kaum noch jemanden.

Wenn selbst die Aufforderung, die schmerzhafte Debatte über den Völkermord an den Armeniern endlich zuzulassen, keine negativen Schlagzeilen mehr nach sich zieht, dann ist das ein sicheres Zeichen, dass sich wirklich etwas verändert hat. Der Europaparlamentarier Cem Özdemir drückte das ganz schlicht aus: Ein Teil der Botschaft ist allein unsere Anwesenheit hier.

In der Tat war der Ausflug der europäischen Grünen von Brüssel nach Istanbul ein Novum. Noch nie zuvor hat eine Fraktion des Europäischen Parlaments in einem Land getagt, mit dem noch nicht einmal über einen Beitritt verhandelt wird. Doch darum ging es ja gerade: Bevor die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember über den Beginn von Beitrittsverhandlungen entscheiden werden und bevor im EU-Parlament dazu noch einmal eine Debatte stattfinden wird, wollten die Grünen sich vor Ort und im Gespräch mit Offiziellen, aber vor allem mit Vertretern der Zivilgesellschaft selbst einen Eindruck davon verschaffen, ob die politischen Kriterien der Union wirklich so weit erfüllt sind, dass Beitrittsgespräche begonnen werden können.

Sie redeten mit Yavuz Önen, Vorsitzender der Menschenrechtsstiftung, der kürzlich für Aufregung gesorgt hatte, weil er EU-Kommissar Verheugen gegenüber darauf bestand, dass es in der Türkei immer noch systematische Folter gibt, jedenfalls laut Definition der UNO. Sie redeten mit Nebahat Akkoc, die eine Organisation für bedrohte Frauen gegründet hat und erklärte, wie wichtig die Unterstützung der EU für ihre Arbeit ist.

Bei aller Kritik, die in den drei Tagen artikuliert wurde, blieb zum Schluss stets die Aufforderung, sich weiter dafür einzusetzen, dass die Tür nach Europa für die Türkei offen bleibt. Selbst Yasar Kemal, der kranke große alte Mann der türkischen Literatur, hatte sich aufgerafft, um den Grünen seine Reverenz zu erweisen und ihnen dafür zu danken, dass sie die türkischen Demokraten immer unterstützt hätten.

Am Ende des Tagungsmarathons, als an historischem Ort im Topkapi-Palast die Abschlussfete gefeiert wurde, glaubten die meisten Teilnehmer, dass das von Dany Cohn-Bendit immer wieder beschworene Wunder vom Bosporus tatsächlich eines Tages geschehen könnte.

Nach der deutsch-französischen Aussöhnung am Rhein und der Vereinigung zwischen West- und Osteuropa an der Oder werden wir in zehn bis fünfzehn Jahren das Wunder am Bosporus erleben, prophezeite der Chef der Grünen-Fraktion. Jedenfalls dann, „wenn Europa klug ist und die türkische Gesellschaft sich weiter in dem Tempo reformiert, in dem sie das in den letzten Jahren getan hat“.