Das Existenzdurcheinander

Verzicht auf das Erhabene: In Haruki Murakamis neuem Erzählband „Nach dem Beben“ bildet das Erdbeben in Kobe 1995 den Hintergrund für viele individuelle Erschütterungen

von DETLEF KUHLBRODT

Haruki Murakami ist wie die Beatles. Supererfolgreich, ein bisschen nonkonformistisch und sehr persönlich. Die wunderschön traurige Liebesgeschichte „Norwegian Wood“, die in Deutschland als „Naokos Lächeln“ erschien, verkaufte sich in Japan allein vier Millionen Mal; seine Bücher, zwölf Romane und diverse Non-Fiction-Sachen, sind in 17 Sprachen übersetzt, und ein Kritiker aus Taiwan schrieb, sein Gesicht werde in hundert Jahren wohl auf japanischen Banknoten zu sehen sein. Viele Besprechungen seiner Bücher, ob in der Bangkok Post, in der Zeit und in Japan sowieso, sind Bekenntnisse. „Manchmal frage ich mich, ob er über das Leben seiner Helden schreibt, oder über mich. Ich lebe so ähnlich wie die Figuren seiner Romane, höre Jazz, wache oft tief in der Nacht auf mit dem Gefühl, es gebe keinen Sinn im Leben“, sagte Konsan Nun, der „Nach dem Beben“ ins Thailändische übersetzt hat, bei einer Podiumsdiskussion in Bangkok. So wie die Helden Murakamis scheinen sich viele zu fühlen, all over the world: melancholisch, still, gesellschaftlich entfremdet, politisch eher fatalistisch, auf der Suche nach etwas, von dem man nicht weiß, was es ist, Spuren folgend, von denen man nicht weiß, wohin sie führen; ein bisschen im luftleeren Raum halt.

Oft geht es bei Murakami darum, dass es keine Zufälle gibt, sondern alles miteinander zu tun hat; dass die Welt voller Zeichen ist, die man nur richtig lesen muss, und dass die scheinbar zufälligen Dinge, fügt man sie zusammen, dann doch einen gewissen Sinn ergeben. Das ist das romantische Element, das sich dann auch in das eigene Leben schleicht, wenn man ein paar seiner Bücher verschlungen hat. Es führt dazu, dass man seinen Mitmenschen mehr persönliches Interesse entgegenbringt, denn es ist ja kein Zufall, total einmalig und unwiderbringlich (anders als im Fernsehen), dass man den einen oder anderen gerade jetzt trifft; das kann natürlich auch zu einem gewissen Existenzdurcheinander führen, wenn man so ein bisschen neben sich stehend, dem eigenen Leben wie einem interessanten Roman zuschaut und nicht recht weiß, ob man sich mit dem Helden da wirklich identifizieren will.

Ein viel beschäftigter Freund, der sich in London mit den wichtigen Fragen der Weltpolitik beschäftigt, erzählte, er habe eine Weile kaum geschlafen, weil er sich von den Büchern Murakamis nicht hatte losreißen können, deren Welt mitreißender ist als die echte Welt, in der wir rumsitzen und lesen. Er empfahl mir, Murakami zu lesen, weil ich gerade Liebeskummer hatte. Ich las dann zwei Monate, und kurz nachdem ich die sechs Erzählungen des soeben auf Deutsch erschienenen Bandes „Nach dem Beben“ gelesen hatte, lernte ich bei einem Freund aus der Goaszene eine Japanerin kennen. Natürlich liebte sie Murakami und die Geschichte, die sie dann erzählte, klang auch gleich sehr murakamimäßig. Nachdem sie eine Weile in London gelebt hatte, war ihr Visum abgelaufen, und sie wollte nach Berlin. Am Flughafen wurde festgestellt, dass ihr Visum für das Land, das sie gerade verlassen wollte, abgelaufen war. Irgendein bürokratischer Irrsinn lief dann ab. Jedenfalls verpasste sie ihr Flugzeug und saß 24 Stunden in Stansted fest. Dort hatte sie in der Nacht Murakamis „After the Quake“ geklaut und gelesen. Bücher, die man auf dem Flughafen oder im Flugzeug liest, bilden ein eigenes, melancholisches Genre, und die Geschichte mit dem mannsgroßen Frosch, der Tokio rettet, hatte ihr am besten gefallen.

„Nimmt Murakami eigentlich Drogen?“ Vermutlich nicht, er läuft Marathons, aber in Tokio leben die Menschen in ganz kleinen Wohnungen, arbeiten wahnsinnig viel, und Urlaub ist ein Fremdwort. Das sollte man im Hinterkopf haben, um die Gegenwelten seiner Helden besser einschätzen zu können. Es beginnt ja meist mit einer Auszeit: Jemand wird verlassen, ist traurig, versucht sich zu ordnen, tut erst mal ein paar Monate nichts, und das disziplinierte Nichtstun führt dann dazu, dass Dinge geschehen.

So beginnt auch die erste von sechs Geschichten aus „Nach dem Beben“, die allesamt im Februar 1995 spielen; zwischen dem Erdbeben in Murakamis Heimatstadt Kobe also, bei dem 6.000 Menschen umkamen, und dem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn im März 1995. Damals kehrte Murakami nach langen Jahren im westlichen „Exil“ zurück, um seinem Land beizustehen, wie er sagte.

Angenehm an dem Buch ist, dass Murakami die nahe liegende Ästhetisierung vermeidet. Er macht aus dem Erdbeben nicht den plötzlichen Einbruch des Erhabenen, Inkommensurablen, nach dem nun alles ganz anders wird. Das Beben ist eher als Abwesendes präsent. Keine der Geschichten spielt in Kobe. Die Helden haben aber Verwandte in Kobe. Eine Frau sitzt fünf Tage lang wie hypnotisiert vor dem Fernseher mit den Livebildern und verlässt dann ohne ein Wort der Erklärung ihren Mann; ein unauffälliger Angestellter bekommt Besuch von einem mannsgroßen Frosch, der ihm mitteilt, dass sie beide zusammen am nächsten Tag gegen „Wurm“ kämpfen müssen, andernfalls werde der nach Kobe auch Tokio mit einem Erdbeben zerstören; die Medizinerin einer anderen Geschichte, die sich in Thailand entspannt, hat einen Stein in sich, der sich gebildet hat aus dem Hass auf den Mann, der sie vor dreißig Jahren verlassen hat und in Kobe wohnt. Sie wünscht sich, dass der Mann beim Erdbeben umgekommen ist. Eine alte Frau sagt ihr, sie solle sich freuen, dass der Mann lebe und auf einen Traum warten, in dem eine grüne Schlange auftauchen würde, die sie festhalten müsse, und dann würde die Schlange diesen Stein auffressen.

Das Bedeutende ist individuell, also konkret, ob nun der Held einer Geschichte am Ende in der Nacht in der Mitte eines leeren Baseballfeldes zu tanzen beginnt oder ob sich zwei zum gemeinsamen Selbstmord verabreden. Das große Ereignis hat Bedeutung, doch wie im echten Leben bildet es eher den Hintergrund für die individuellen Umbrüche, Erschütterungen, die (in) den Menschen passieren.

Im Gegensatz zu seinen anderen Erzählungsbänden ist „Nach dem Beben“ schlüssig wie ein Konzeptalbum, in dem die einzelnen Stücke (etwa wie in den „Neun Erzählungen“ Salingers) ähnliche Themen variieren, einander kommentieren und aufeinander verweisen. Der neue große Roman Murakamis, „Kafka on the Shore“, eine 800 Seiten lange König-Ödipus-Variation mit einem fünfzehnjährigen Helden, ist vor einem Jahr in Japan erschienen, schlägt alle Verkaufsrekorde und kommt im nächsten Jahr bei uns raus.

Haruki Murakami, „Nach dem Beben“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2003, 186 Seiten, 19.90 €