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Archiv-Artikel

Legende von Lengede

Ein Mythos der jungen Mediengesellschaft, nach vierzig Jahren inszeniert als nationaler Mythos („Das Wunder von Lengede“, 20.15 Uhr, Sat.1)

von CLEMENS NIEDENTHAL

Renate Reger trägt die Trauer kniefrei, die falschen Wimpern über den echten, großen Augen kokett aufgestellt. Renate Reger steht auf einem Bahnsteig im niedersächsischen Lengede, sie wird dem Ort noch im Abspann den Rücken kehren. „Wir kümmern uns um euch, das hat Franz Bruno versprochen“, wird Helga Wolbert ihr noch hinterherrufen. Aber Renate Reger ist keine, die zulässt, dass sich andere um sie kümmern. Schon gar nicht in einer Stadt, die – Wunder hin oder her – längst zu klein geworden ist für Träume jenseits einer wirtschaftswundernden Konsensgesellschaft.

Gerade noch haben die Kameras des Norddeutschen Rundfunks das Wunder von Lengede live in die Republik getragen. Bald schon wird es umgekehrt sein. Bald erzählen die Fernsehgeräte in Lengede von Berliner Studentenprotesten oder einem geohrfeigten Bonner Regierungschef. Und von einer Nation, in der es zu bröseln beginnt. So wie im Alten Mann, jenem stillgelegten Stollen in der Eisenerzgrube „Mathilde“, in den sich am 24. Oktober 1963 21 Bergleute vor den eindringenden Wassermassen gerettet hatten. Zehn von ihnen werden in den folgenden Tagen von herabbrechenden Steinplatten erschlagen, die übrigen elf nach quälenden zwei Wochen lebend geborgen.

„Gott hat mitgebohrt“ titelte damals die Bild – schließlich ist das Wunder zunächst einmal eine religiöse Kategorie. Und Lengede auch ein wenig zu einem Lourdes geworden. Weswegen Drehbuchautor Benedikt Röskau die Nachricht, dass eine letzte, verzweifelte Suchbohrung auf Überlebende gestoßen sei, ausgerechnet in den Trauergottesdienst hineinplatzen lässt. Die Realität verlief vor vierzig Jahren zwar weniger melodramatisch. Helga Wolbert immerhin, Ehefrau des Bergmanns Franz Wolbert und in der Sat.1- Produktion die beste Freundin der rein fiktiven Figur Renate Reger, wurde tatsächlich aus der Kirchenbank zum Bohrturm gerufen. Es habe Klopfzeichen gegeben. Mehr wusste die junge Frau zunächst nicht.

Heike Makatsch spielt jene Renate Reger, erst Bergmannsfrau, bald Bergmannswitwe. Heike Makatsch, das postfeministische Fräuleinwunder, der die Rolle der emanzipierten Provinzmüden so gut steht wie einem Armin Rohde die des hemdsärmeligen Bohrmeisters Jürgen Grabowski. Seiner Intention und seiner Erfahrung, so erzählt es der Zweiteiler, haben die Bergleute ihre Rettung zu verdanken.

Noch so eine typisch deutsche Geschichte also. Die Legende vom hochgedienten Arbeiter, dessen Lehrmeister der harte Alltag unter Tage und nicht das Ingenieurstudium war. Und der auch deshalb nicht aufgibt, weil sein Herz an den verschütteten Kollegen hängt. Denn auch das ist „Das Wunder von Lengede“: ein Film über die Freundschaft, ein Film über Kumpel eben. Und ein Film mit vielen Bekannten. Dreimal „Tatort“ (Jan Josef Liefers, Axel Prahl, Klaus J. Behrendt) und einmal „Lindenstraße“ (Christian Kahrmann). Außerdem Heino Ferch, Nadja Uhl, Thomas Heinze.

War das von den Fernsehkameras begleitete Grubenunglück von Lengede so etwas wie ein konstituierender Moment der ganz jungen Mediengesellschaft, so versteht es die filmische Adaption auf beinahe dekadente Art, den Anforderungen der heutigen Mediengesellschaft Genüge zu tragen. Dieses Projekt – so die kaum zu überhörende Botschaft – von solch nationaler Bedeutung, dass aber auch alle und jeder mitwirken wollte. Nur auf Ottfried Fischer in der Rolle des Ludwig Erhard müssen wir verzichten. Hier greift Regisseur Kaspar Heidelbach auf historische Originalaufnahmen zurück.

Das Grubenunglück von Lengede – und das belegt gerade die Kanzlervisite am Unglücksort – wurde zu einem Ort, an dem sich die Nation einmal mehr ihrer selbst vergewissern sollte. An dem ganz Deutschland in ehrlich empfundener Anteilnahme zusammengekommen war. Dass das „Wunder von Lengede“ neben all diesen großen Gefühlen auch die kleinen Zweifel zulässt, ist das Überraschende an einem im Übrigen ziemlich sehenswerten Dokudrama. Für Renate Reger zumindest bleibt Lengede ein enger Ort. Auch wenn sie nicht in einem 55 Meter tiefen Bergwerksstollen eingeschlossen ist.