: „Mit Marx wären wir weiter“
Das politische Werk und der marxistische Beitrag: Micha Brumlik über den notwendigen Abschied von revolutionären Subjekten und die gerechte Verteilung von Gütern – ein Gespräch aus Anlass des Frankfurter Kommunismus-Kongresses
Interview STEFAN REINECKE
taz: Herr Brumlik, der Kommunismus ist, mit Marx gesagt, ein toter Hund. Oder?
Micha Brumlik: Ja und nein. Als politisches System in der Form, die er im 20. Jahrhundert angenommen hat, ist er tot. Marx’ Grundidee aber, eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Verhältnisse beseitigt sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist, ist nach wie vor ein aktuelles Ziel.
Aber Sie können dieses Ziel nicht von der Terrorgeschichte des realen Kommunismus abstrahieren.
Nein, gewiss nicht. Man muss sich ernsthaft mit der Frage befassen, ob die Versuche, die Marx’sche Utopie zu verwirklichen, deshalb in blutigem Terror geendet sind, weil schon die Idee falsch war. Das glaube ich allerdings nicht. Keine große Idee ist vor terroristischem Missbrauch geschützt. Mich interessiert heute die Frage, ob ein Wirtschaftssystem jenseits der Marktwirtschaft möglich ist – also ob ein System denkbar ist, das die Bedarfsdeckung politisch organisiert und eben nicht über den Markt.
Nun ist der Kommunismus nicht nur durch seine trostlose Verwirklichung ruiniert, sondern auch durch das, was man digitalen Kapitalismus nennt. Das Industrieproletariat ist rein empirisch auf dem Rückzug. Ist damit nicht der ganze Marxismus hinfällig?
Richtig ist, dass die Marx’sche Revolutionstheorie, die das Proletariat ins Zentrum rückte, welthistorisch falsifiziert ist. Es kann auch nicht mehr darum gehen, sich immer aufs Neue auf die Suche nach einem neuen revolutionären Subjekt zu machen. Das ist ja die Schwäche von Toni Negri und Michael Hardt, die diese Suche schließlich zu dem wolkigen, nichts sagenden Begriff Multitude führt. Es geht meiner Ansicht nach um etwas anderes: um den Versuch, politisch eine gerechte Verteilung von Gütern zu organisieren. Dafür braucht man kein revolutionäres Subjekt, sondern Bürger und einen funktionierenden Parlamentarismus.
Und was bleibt sonst noch vom Kommunismus?
Paradoxerweise vielleicht Stalins Losung vom Sozialismus in einem Land. Die Globalisierungskräfte sind derart mächtig geworden, dass Abschottung für nationale Ökonomien ein tauglicher Weg sein kann. Denn es ist ja im Moment keineswegs abzusehen, dass die globalisierte Welt je ein einheitlicher politischer Raum werden könnte.
Also Autarkie – Modell Nordkorea?
Nein, so natürlich nicht. Die Abschottung von Märkten ist längst Praxis – leider nur nicht so, wie wir uns das vorstellen. Denken Sie an die Agrarsubventionen und die Zölle der EU, die verhindern, dass der Süden seine Waren exportieren kann.
Zurück zu Marx: Norberto Bobbio meint, dass Marx in die Kategorie von Hobbes und Montesquieu gehört, dass wir ihn also als Klassiker schätzen sollen, der aber keinen aktuellen politischen Bezug mehr hat. Einverstanden?
Ja, aber etwas anders, als Sie meinen. Wenn Marx so anerkannt wäre wie Hobbes und Montesquieu, wäre schon viel gewonnen. Mit Hobbes halten wir doch daran fest, dass Herrschaft in der Moderne an Gesetze gebunden sein muss, mit Montesquieu halten wir daran fest, dass Herrschaft in der Demokratie Gewaltenteilung braucht. Wenn wir mit Marx daran festhalten könnten, dass nicht das anonyme Marktgeschehen die bestimmende Kraft der Ökonomie ist, sondern die Politik – dann wären wir einen Schritt weiter.
Die Idee, dass ein Marktregulativ nötig ist, passt auch in die katholische Soziallehre. Was ist das spezifisch Kommunistische?
Die radikale Kritik des Marktes. Das ist Marx’ Verdienst. Und die katholische Soziallehre baut viel stärker auf der liberalen Idee des Eigentums auf.
Ist vorstellbar, dass die kommunistische Idee wieder von einer Partei vertreten wird? Wäre das wünschenswert?
Nein. Wir brauchen keine KP. Jede Idee, die auf Machterwerb zielt und Demokratie und Gewaltenteilung in Frage stellt, ist obsolet. Das müssen alle begreifen, die sich für die kommunistische Idee interessieren. Hier gibt es auch in der Tat eine Verbindung zwischen der theoretischen Schwäche von Marx und der auf ihn folgenden terroristischen Praxis. Der große systematische Fehler von Karl Marx war es, keine politische Theorie der Demokratie entwickelt zu haben. Das war bei Friedrich Engels, der sich später in Richtung Reformismus bewegte, anders. Wenn also der Kommunismus heute noch eine Chance haben will, dann nur in der Form, die ihm Engels gegeben hat.