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Archiv-Artikel

„Die Gewerkschaften haben Europa einfach verpennt“, sagt Herr Esser

IG Metall und Co ist klar, dass sie neue Wege gehen müssen. Doch wissen sie nicht, wohin sie führen sollen

taz: Herr Esser, warum soll ein 16-jähriger Maschinenschlosser heute noch in die IG Metall eintreten?

Josef Esser: Da gibt es gute Gründe, immerhin kümmert sich die IG Metall bei Tarifverhandlungen um seine Lohn- und Arbeitsbedingungen und die Qualität seiner Aus- und Weiterbildung.

Dennoch leidet die IG Metall unter Mitgliederschwund, weil sie unter anderem bei Jugendlichen nicht ankommt. Warum?

Gerade jüngere Menschen wollen mitmachen und mitgestalten. Sie werden von den zentralistischen Organisationsstrukturen der Gewerkschaft abgeschreckt nach dem Motto: Der IG-Metall-Vorstand befiehlt, ich folge dir! Das momentane Negativ-Image der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit lockt auch nicht gerade zur Mitgliedschaft.

Bleibt einem Gewerkschafter angesichts des Negativ-Images momentan nur die Flucht in Verschwörungstheorien?

Es gibt sicher Gewerkschafter, die sehen den Neoliberalismus als Weltverschwörung, als ein großes Bündnis zwischen Kapital und Politik, gegen das man kämpfen muss. Aber inzwischen ist doch vielen klar geworden, dass es in unserer Gesellschaft objektive Probleme gibt, die nichts mit Neoliberalismus zu tun haben, und dass die Gewerkschaften durch eigenes Nichtstun eine Mitschuld an diesem Reformstau haben.

Warum tun sich die Gewerkschaften so schwer, eine Antwort auf die Agenda 2010 von Kanzler Schröder zu geben?

Sie standen im ersten Halbjahr unter Schock. Als Blockierer bezeichnet zu werden, die Mitglieder nicht mobilisieren zu können – das war eine brutale Einsicht. Auch dass sich die Sozialdemokratie unter Schröder von ihnen abgewendet hat und abrupt das Bündnis für Arbeit kündigte, müssen sie noch verkraften.

Aber wir befinden uns längst in der zweiten Jahreshälfte?

Die Einsicht, neue und eigene Wege gehen und sich als eigenständiger politischer Verband profilieren zu müssen, ist jetzt da. Nur weiß niemand so recht, wie diese neuen Wege aussehen sollen. Die Gewerkschaften stehen vor einer Grundsatzfrage: Wird es nicht Zeit, sich von der quasi naturgegebenen Fixierung auf die Sozialdemokratie zu lösen und neue Bündnisse im außerparlamentarischen Raum zu suchen, etwa mit neuen sozialen Bewegungen wie Attac? Die einen favorisieren diesen Weg zu einer neuen APO, die anderen wollen im etablierten politischen System präsent bleiben. Dritte glauben, beide Strategien ließen sich miteinander verbinden. Der vorherrschende Trend scheint mir der zu sein, den Spagat zu versuchen – mit Standbeinen innerhalb und außerhalb des parteipolitischen Systems.

Wenn die Gewerkschaften Probleme haben, sich auf die Strukturveränderungen in Deutschland einzustellen: Wie schwer fällt es ihnen dann, mit den Herausforderungen von Globalisierung und europäischer Integration umzugehen?

Gravierend für sie ist die europäische Integration. Der Europäische Gerichtshof oder die europäische Geldpolitik greifen massiv in die Politikfelder ein, etwa in die Sozialpolitik, von denen die Gewerkschaften bisher glaubten, sie würden allein auf nationalstaatlicher Ebene gestaltet. Da haben sie ziemlich versagt.

Warum versagt?

Weil Mitte der 80er Jahre mit der Europäischen Akte und dann dem Maastricht-Vertrag klar war, dass die EU neue Wege geht. Mit einem Leitbild, das stärker auf Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung setzt. Da hätten alle Gewerkschaftsverbände in Europa erkennen müssen, dass sie von ihrer jeweiligen nationalstaatlichen Abschottung wegkommen müssen. Erst in den vergangenen Jahren hat man erkannt, dass man die Europäisierung verpennt hat. Dabei wäre es notwendig gewesen, eine europäische Komponente in der Gewerkschaftsarbeit zu installieren. Wegen zentraler Fragen wie: Lässt sich ein neues, europäisches Wohlfahrtsstaatsmodell etablieren? Lässt sich europäische Tarifpolitik betreiben? Aber offensichtlich gelingt es den Gewerkschaften bisher nicht, die Fixierung auf die nationalen Interessenskonstellation aufzugeben.

Herr Esser, was kann sich die IG Metall bei der anstehenden Lohnrunde noch leisten?

Ich tippe auf eine Lohnforderung zwischen 3,5 und 4 Prozent. Das wird der klassischen Addition aus gesamtwirtschaftlichem Produktionszuwachs, Inflation und vielleicht noch einer kleine Umverteilungskomponente folgen. Sie sind schon bescheidener geworden.

Wird die Arbeitgeberseite nicht die Schwäche der Gewerkschaften ausnutzen?

Nur, wenn sich auf Arbeitgeberseite Martin Kannegiesser mit seiner Philosophie nicht durchsetzen kann.

Die da wäre?

Die Gewerkschaften stärken und nicht weiter demütigen mit einer hart geführten Tarifrunde, weil man sie für die Sicherung des Flächentarifvertrages braucht. Und wenn man die IG Metall stärken will, muss man ihr einen kleinen Erfolg bei den Tarifverhandlungen zugestehen.

Wie sehr steht das Führungsduo, Jürgen Peters und Berthold Huber, unter Erfolgsdruck?

Die Niederlage bei der Agenda 2010 und beim Streik im Osten sowie die Schlammschlacht um den Chefposten hat zu großer Resignation in der IG Metall geführt. Inzwischen ist die Devise: Bloß stillhalten und das Gesicht wahren! Ich müsste mich sehr täuschen, wenn ich heute sage, es wird keinen Streik geben.INTERVIEW: THILO KNOTT