: Schrot-Pässe statt Magie
Gleich mit 1:5 geht Hannover 96 im Nordderby gegen Bremen unter, obwohl bei den Werderanern nicht einmal der übliche Torjäger Ailton mitspielt. Statt seiner trifft einfach Ersatzmann Valdez
aus Hannover DIETRICH ZUR NEDDEN
Früher, als das böse Wort mit G noch ein fremdes war, das Reinheitsgebot verpflichtend wie eines aus der Bibel und der Ball noch aus Leder war, galt für Bier trinkende Fußballfans ein strenger Verhaltenskodex. Da wäre es undenkbar gewesen, dass man vor einem Nordderby Fans von Hannover 96 ungestraft Beck’s Bier aus Bremen statt das heimische Gilde Bräu trinken sieht. Heutzutage ist das erlaubt, wie am Sonnabend vor dem ehemaligen Niedersachsenstadion zu beobachten war, heutzutage ist das egal. Die alle Schamgrenzen überwindende, quasi Kontinente verschiebende Globalisierung mag schuld daran sein, erst recht in diesem konkreten Fall, denn beide Brauereien sind inzwischen von Interbrew, einem belgischen Großkonzern, aufgekauft worden.
Die zuletzt geleerten Flaschen standen noch nicht lange herrenlos außerhalb der Arena, da hatte Werder den Hannoveranern schon eingeschenkt, um eine Überleitung à la Delling zu benutzen. Acht Minuten nach Anpfiff köpfte Nelson Haedo Valdez einen von Baumann verlängerten Eckball ins Tor der 96er. Eine halbe Stunde später schlug er abermals zu, nach einem Pass von Micoud, der als Musterbeispiel im Lehrfach Timing dienen könnte.
Valdez? Der Name muss einem nicht zwingend geläufig sein: Ein bald 20-jähriger kraftvoll-quirliger Paraguayaner, den Werder-Trainer Thomas Schaaf in dieser Saison noch nie von Anfang an gebracht hatte, der stattdessen sieben Mal für die Amateure in der Regionalliga angetreten war. Nun ersetzte er Ailton, der Auftritt des nicht nur nach eigener Aussage momentan besten Stürmers der Liga musste nämlich ausfallen. Die Nachricht, dass ihn eine Bindehautentzündung plage, hatten manche in Hannover noch für eine Finte gehalten, doch solche billigen Tricks hat Werder nun wirklich nicht nötig. Um derzeit in Hannover 5:1 zu gewinnen, dafür braucht man den gegenwärtigen Ersten der Torschützenliste nicht, wenn man auf einen Spieler wie Valdez zurückgreifen kann, oder auf Ivan Klasnic, der vier Minuten vor der Pause das 3:0 für Bremen machte.
Werder führte „auch in dieser Höhe“ irgendwie völlig verdient, hatte nach vorn fein kombiniert und hinten wenig zugelassen, während die 96er – ohne Lala, Kleber, Christiansen, de Guzman und wohl für immer ohne Simak – Orientierung suchten, sie aber auch bei ihrem zentralen Organisator Krupnikovic nicht fanden, dessen Pässe schrotartige Streubreite hatten.
Das Halbzeitresultat saß und zeigte Wirkung. Da sah man bei den Heimfans alle Spielarten an Reaktionen, alle Stimmungsfarben, die nach so einer Pleite denkbar sind. Zum Crescendo des Pfeifkonzerts trabte ein Bariton blökend an der Pressetribüne vorbei: „Sie sind zu blöd, zu blöd, zu blöd“ ad libitum. Nichts würde gegen den kollektiven Unmut helfen außer aufm Platz. Weder über die Lautsprecher auf die CD „96 – Magic Moments“ hinzuweisen, noch den Vereinsschlager einzuspeisen, dessen Refrain die Zeilen führt: „Lass die andern alle reden / von Bayern oder Bremen / Wir sind immer bei dir / 96, HSV.“
Dieses Wir war umgehend versöhnt – das ist wahre Liebe! Mit allen Emotionen! –, als Stajner nach einem Solo zum Niederknien in der 55. Minute auf 1:3 verkürzte. Plötzlich war der entsprechende Schalter in den Köpfen der knapp 26.000 Zuschauer minus der Werder-Fans angeknipst. Das Derby der vergangenen Saison blitzte auf, als 96 einen 2:4-Rückstand in den letzten 10 Minuten ausglich. Eine derartige, der Identifikation enorm förderliche Dramaturgie blieb diesmal aus, wäre im Übrigen aber möglich gewesen, wenn, ja wenn es Cherundolo gelungen wäre, eine überdurchschnittlich große Chance in ein Tor zu verwandeln.
Ungefähr im Gegenzug setzte wiederum Klasnic allen Hoffnungen der Gastgeber ein Ende, als er zum 1:4 traf. Dass ausgerechnet Fabian Ernst, das werdersche Kraftfeld links, kurz vor Schluss mit einem vorzüglichen Direktschuss den Endstand festschrieb, dieses einem Derby gemäße ironische Detail blieb praktisch unbemerkt: Es ist noch nicht allzu lange her, dass Ernst zusammen mit Asamoah, Addo, Bastian Reinhardt u. a. die Mannschaft des Regionalligisten Hannover 96 prägte. Etwa zu der Zeit, da es noch undenkbar war, dass ein 96-Fan Beck’s vorm Spiel kübelt. Da 96 noch gegen Werders Amateure antreten musste. Von denen wiederum – siehe oben – Spieler wie Nelson Haedo Valdez herkommen.
Hannover 96: Ziegler - Zuraw, Konstantinidis, Vinicius - Cherundolo, Dabrowski, Krupnikovic (86. Djefaflia), Stefulj (46. Idrissou) - Stendel, Brdaric (82. Wolf), StajnerWerder Bremen: Reinke - Davala, Ismael, Krstajic, Stalteri - Baumann, Ernst - Lisztes (85. Borowski), Micoud - Klasnic (80. Charisteas), Valdez (82. Daun)Zuschauer: 25.895; Tore: 0:1 Valdez (8.), 0:2 Valdez (36.) 0:3 Klasnic (40.), 1:3 Stajner (55.), 1:4 Klasnic (79.), 1:5 Ernst (88.)