: Aus Dörfern werden Mondlandschaften
Der Braunkohletagebau Garzweiler II wird 18 Dörfer und Weiler vernichten. Fast 8.000 Menschen müssen umsiedeln. Sie verlieren nicht nur ihre Häuser und Wohnungen, sondern gewachsene Dorfstrukturen, Gemeinschaften und Erinnerungen. Und das für ein Projekt, das ökologisch kaum vertretbar ist
Von Christiane Martin
Wird Johannes Dünschede gefragt, warum er gegen den Tagebau ist, weist er mit einer ausholenden Armbewegung Richtung Norden und sagt: „Wo finde ich so etwas jemals wieder.“ Eine Weide, auf der eine Kuh mit zwei Kälbern friedlich grast, Obstbäume mit knorrigen Ästen, links und rechts die Gemüsegärten der Nachbarn, dahinter Felder bis zum Horizont. Der 77-jährige Landwirt weiß, dass seine Tage in dieser Idylle gezählt sind.
Denn der Braunkohlebagger lauert vor den Toren seines Heimatdorfes Pesch. Ab 2006 will der RWE-Konzern hier im Tagebau Garzweiler II Braunkohle abbauen. Dafür werden die umliegenden Dörfer zuerst dem Erdboden gleichgemacht und anschließend in eine Mondlandschaft verwandelt. An eine Wendung des Schicksals glaubt der langjährige Widerständler Dünschede nicht mehr. Seit im Jahr 2000 mehrere Klagen gegen den neuen Tagebau abgelehnt worden sind, ist die Stimmung gekippt. Der Kampf der Betroffenen scheint verloren.
„Wir haben uns damit abfinden müssen, dass Garzweiler II kommen wird“, sagt Hans-Heiner Gotzen. Er ist Beigeordneter der Stadt Erkelenz, zu der auch Pesch gehört und die ein Drittel ihres Stadtgebietes durch Garzweiler II verlieren wird. Jahrzehnte lang war auch die Stadt Erkelenz ein erbitterter Gegner des Tagebaues. Jetzt hat sie endgültig nachgegeben und Anfang Oktober 2004 einen ersten Vertrag mit dem Betreiber RWE zur Umsiedlung der Erkelenzer Ortschaften Borschemich, Lützerath, Immerath und Pesch unterzeichnet.
Dirk Jansen vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat dafür nur bedingt Verständnis. Natürlich müsse die Stadt ihrer Verantwortung nachkommen und dafür sorgen, dass die Umsiedlungen, wenn sie unvermeidbar sind, zu Gunsten der Bevölkerung ablaufen. Zurzeit aber beuge man sich damit einem aus seiner Sicht nicht bestehenden Recht. Eine beim Oberverwaltungsgericht Münster anhängige Klage des BUND gegen Garzweiler II habe dessen bergrechtliche Zulassung auf Eis gelegt. Dass trotzdem fleißig weiter umgesiedelt wird, findet er nicht richtig.
„Die Würfel sind gefallen“
Doch in den betroffenen Ortschaften glaubt kaum einer daran, dass der BUND die Klage gewinnen könne. „Die Würfel sind gefallen“, sagt Reiner Beeck. Er wohnt mit seiner Familie in Borschemich auf dem elterlichen Hof, der in den nächsten Jahren dem Bagger weichen soll. Lieber würde er hier bleiben. Trotzdem versucht er optimistisch in die Zukunft zu blicken. Jetzt hieße es, gemeinsam das Beste aus der Situation zu machen und sich rechtzeitig in die Planungen einzuschalten.
Erste Entwürfe für eine neue Siedlung im Norden von Erkelenz liegen vor und berücksichtigen die Wünsche der Borschemicher. Man rechnet damit, dass über drei Viertel der Einwohner gemeinsam dorthin umsiedeln. „Ab dem nächsten Frühjahr werden die Grundstücke vergeben. Aber es bleibt die Frage, wer welches Grundstück bekommt“, erklärt Beeck. Ein Bürgerbeirat, der die Interessen der Einwohner vertritt, erstelle gerade Kriterien für die Grundstücksvergabe. „Aber ohne Schwierigkeiten wird das nicht über die Bühne gehen“, befürchtet er.
Bei Außenstehenden stoßen die Umsiedler meist auf wenig Verständnis für ihre Probleme. „Viele sagen, wir bräuchten uns nicht zu beschweren. Schließlich bekämen wir alle schöne neue Häuser“, erzählt eine Frau aus Borschemich. „Die wissen doch gar nicht, was da alles dran hängt. Mit Geld kann man das nicht ersetzen“, schimpft sie und meint die Erinnerungen, die an den alten Orten hängen, die gewachsenen Strukturen, die Gemeinschaft und andere ideelle Werte, die die Umsiedler verlieren werden.
So müssen die Einwohner von Borschemich in ihrer neuen Heimat auf eine eigenständige Kirchgemeinde verzichten. „Das Bistum Aachen hat entschieden, dass wir keine eigene Kirche mehr bekommen“, bedauert Reiner Beeck. Borschemich wird dann einer bestehenden Pfarrkirche angegliedert und erhält nur ein Gemeindezentrum. Das Bistum nutzt die Gunst der Stunde und setzt anstehende Umstrukturierungen in einem Zug mit um. „Da kocht der Volkszorn wieder“, sagt Beeck. Er findet, dass er und seine Mitbürger genug gebeutelt seien. Da müsse man ihnen nicht auch noch das antun.
Dass es kaum möglich ist, die über Jahrhunderte gewachsenen Dorfstrukturen zu erhalten, zeigt sich in den benachbarten Ortschaften, die bereits mitten in der Umsiedlungsphase sind. In Otzenrath-Alt stehen ganze Straßenzüge zum Abriss bereit. Der Wind pfeift durch zerschlagene Fenster, aus denen noch vor kurzem die Bewohner lehnten, um mit dem Nachbarn zu plauschen. Ein Geisterdorf. Die meisten Einwohner leben inzwischen in Otzenrath-Neu. Obwohl hier die Straßen zum Teil dieselben Namen tragen und alte Nachbarschaften erhalten blieben, spürt man sofort, was fehlt: das Flair eines mehrere hundert Jahre alten Dorfes. „Das muss sich entwickeln“, sagen die Bewohner und zeigen sich auch hier optimistisch. „Wenn erst einmal Kindergarten und Schule hier sind, wird es besser.“ Und der alte Friedhof.
„Neu ist auch schön“
Auf dem neuen gibt es erst zwei Gräber, verloren auf der grünen Wiese. Die 600 Gräber aus Otzenrath-Alt werden bis 2006 umgebettet. Aber die Ehrfurcht gebietende Atmosphäre eines alten Kirchhofes wird sich trotzdem nicht sofort einstellen. Dazu müssen Grabsteine verwittern und Sträucher gen Himmel wuchern. „Neu ist auch schön“, machen sich die Otzenrather dennoch Mut. „Und die Bäume werden schon wachsen.“
Für den Landwirt Johannes Dünschede ist das kein Trost. „Ich werde nicht mehr erleben, wie neu gepflanzte Bäume groß werden“, sagt der alte Mann.