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Archiv-Artikel

Erfahrung statt Credits

Mit „Erasmus“ ein oder zwei Semester ins Ausland – eine feine Sache. Es sei denn, man möchte alle Scheine angerechnet bekommen und nahtlos weiterstudieren

Ein paar Jahre noch, und Bologna wird Wirklichkeit sein: Polen studieren in Belgien, Belgier in Finnland, Finnen in Polen. Der einheitliche europäische Hochschulraum, den 29 Bildungsminister vor fünf Jahren in Norditalien beschlossen haben, rückt in greifbare Nähe. Bis 2010 soll jede Studienleistung europaweit übertragbar sein, es soll vergleichbare Studienabschlüsse und gemeinsame Qualitätsstandards geben. Nichts soll der immer wieder beschworenen Mobilität der Studierenden in einer globalisierten Welt im Weg stehen.

Doch die Realität sieht noch anders aus. Caroline Walke zog es als Studentin mitten ins Bologna-Land. Die 26-jährige Studentin der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin hatte an der Universität von Florenz einen Erasmus-Platz ergattert. Wenn man Caroline Walke fragt, wie es war, sagt sie: Sie hat sich in einem fremden Land zurechtgefunden, eine neue Sprache gelernt und italienische Freunde gefunden. Das alles sei großartig gewesen. Was aber das reine Studium angehe, wäre sie besser in Deutschland geblieben.

Caroline Walke ist eine von einer Million jungen Europäern, die sich inzwischen im Rahmen des EU-Programms Erasmus/Sokrates auf den Weg gemacht haben. Seit 1987 bietet das Programm die Möglichkeit, drei bis zwölf Monate an einer Partneruniversität in einem anderen europäischen Land zu studieren. Erasmus/Sokrates nimmt den Studierenden einen Teil der sonst immer noch aufwändigen Formalitäten ab. Außerdem werden die Studiengebühren erlassen und es gibt ein monatliches Taschengeld von 50 bis 200 Euro.

Caroline Walke reiste mit einem „Learning Agreement“ nach Florenz, das sowohl von einem deutschen als auch von einem italienischen Professor sowie von ihr selbst unterzeichnet worden ist. Das Abkommen, das in den 90er-Jahren eingeführt wurde, soll gewährleisten, was früher nie klappte: dass ein Austauschstudent sich das, was er im Austausch lernt, an seiner Heimatuni anrechnen lassen kann. Seit auch das European Credit Transfer System (ECTS) an fast jeder Uni geläufig ist, sollte die Übertragbarkeit von Studienleistungen eigentlich kein Problem mehr darstellen.

Könnte man meinen - sie tut es aber doch. In Caroline Walkes Fall bestand das Berliner Otto-Suhr-Institut strikt darauf, dass sie schriftliche Prüfungen absolvierte. Leider sind in Italien mündliche Prüfungen an der Tagesordnung. „Also“, sagt die 26-Jährige, „bin ich von Professor zu Professor gelaufen und habe in jedem Seminar um Sonderbehandlung gebeten.“ Das ging zwar irgendwie, nutzte ihr aber zunächst auch wenig. Am Ende ihres Studienjahrs war das Transkript mit all ihren italienischen Leistungsnachweisen in der Verwaltung der Florentiner Universität verloren gegangen.

Nächstes Problem: die Finanzen. Das Stipendium reicht bestenfalls für ein tägliches Mensaessen – also muss, wer das Land wechselt, entweder mächtig gespart haben oder im Ausland arbeiten. Caroline Walke suchte sich noch vor einer Wohnung einen Job im Internetcafé. Bafög-Berechtigte und in Ausnahmefällen auch andere können Auslands-Bafög beantragen. Das tat zum Beispiel Vassoula Gortsas, die mit Erasmus/Sokrates an der University of Canterbury studierte – und ebenfalls fast an ihrem „Learning Agreement“ gescheitert wäre. Standardmäßig steht in diesem geschrieben, dass die an der Partneruniversität erbrachten Leistungen „voraussichtlich“ anerkannt werden. Das war dem Bafög-Amt nicht genug; es verlangte eine definitive Zusicherung, dass die importierten Scheine überschrieben würden. Die gibt es aber gar nicht. Nach langem Hin und Her zahlte das Amt - Vassoula Gortsas sorgte sich während ihres gesamten England-Aufenthalts, was passieren würde, wenn ihre Leistungen am Ende doch nicht anerkannt würden.

Auf das Auslandsjahr verzichten wollen beide trotz allem nicht. „Auf keinen Fall“, sagt Caroline Walke, „man muss ja nicht jede lohnende Erfahrung in Punkte umrechnen können.“ Gerade weil sie sich vieles anders vorgestellt hat, habe sie enorm viel gelernt, meint Vassoula Gortsas. So sehen sie wohl aus, die Studierenden, die Europas Bildungsminister sich erträumen: mobil, flexibel, interkulturell und international – und durch nicht so schnell zu erschüttern. Jeanette Goddar