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Archiv-Artikel

Die imaginären Folklorismen

Die japanische Jazzszene bildete einen Schwerpunkt des diesjährigen JazzFests in Berlin. Doch die eingeladenen Künstler machten dieser Wahl wenig Ehre. Ein Problem des theoretischen Überbaus?

Man wollte zeigen, dass der kreativere Jazz nicht mehr inden USA zu finden ist

von CHRISTIAN BROECKING

Dass das Publikum gleich am ersten Tag eine wichtige Rolle spielen würde, damit hatte man bei der Festivalleitung wohl kaum gerechnet. Satt gebettet auf den Erfolgen der beiden Vorjahre hatte man keinen Zweifel, dass das Festival ein Selbstläufer sei. Und ja, mit insgesamt über 10.000 Besuchern waren die meisten der 17 JazzFest-Konzerte tatsächlich sehr gut besucht. Das ist für die nahe Zukunft des hoch subventionierten Festivals ein nicht zu unterschätzender Erfolg, besonders, da private Sponsoren sich in den letzten Jahren rar gemacht haben. Dass man das Budget folglich nicht mehr für die Big Names der Branche verprassen muss, birgt eine ungeheure Chance, die das Berliner JazzFest den meisten anderen voraushat.

Das Problem war in diesem Jahr aber der Überbau. Denn wo Peter Schulze, der neue künstlerische Leiter, kulturelle Aneignung hineinprojizierte, stand das Publikum auf und ging. Der Eröffnungsabend mit der japanischen Varieté-Animateurin Miharu Koshi, die es binnen Minuten schaffte, dem JazzFest 2003 das musikalische Zerrbild von einem Schwerpunkt zu geben, war ein Grauen.

Nur zur Erinnerung: Als Joachim Sartorius vor drei Jahren Intendant der Berliner Festspiele wurde, wollte auch er für das 1964 als Berliner Jazztage gegründete Festival einen Neuanfang. Impulse versprach er sich von jährlich wechselnden künstlerischen Leitern und thematischen Schwerpunkten. Doch das ist schon wieder passé. Nach Skandinavien und Chicago sollte in diesem Jahr zwar noch die japanische Szene vorgestellt werden, zumindest fragmentarisch. Doch als Frau Koshi mit Cowboyhut und Mieder bewaffnet die Bühne des Festspielhauses betrat und französische Chansons miaute, machte sich im Publikum Ratlosigkeit breit.

Auch der als Ko-Kurator für den Japan-Schwerpunkt bestellten Werbejingle-Komponist Jun Miyake konnte diese im Interview nicht aufheben. Dass Frau Koshi eingeladen wurde, konnte er sich nur als fatale Überinterpretation des Umstands erklären, dass sie französische Liedchen in Japan singe. Das habe halt zu der von Schulze favorisierten These von der migrationsbedingten Aneignung fremder Kulturen so superoriginell gepasst. Dass sein eigenes Konzert der Gerüchtelage über den japanischen Jazz nicht gerade zuträglich war, lässt sich womöglich aus dem Umstand erklären, dass Herr Miyake Jazz nicht mag – und, wenn man es genau bedenkt, Japan eigentlich hasst. In seinen kulturpessimistischen Ausführungen über sein Herkunftsland war jedenfalls so oft von Lolita-Kultur die Rede, dass einem ganz schmuddelig wurde.

Auch der dritte Japan-Act, der Pianist Masabumi Kikuchi, las sich im Programmheft ganz interessant. Auf der Bühne kam seine einstündige Solo-Improvisation jedoch schon nach 30 Sekunden ins Stocken. Auch Kikuchi, seit über 30 Jahren in New York lebend, lässt kein gutes Wort am heutigen Japan. Und vom wirklichen, nicht imaginären, Jazz habe er sich schon lange verabschiedet – spätestens, als er vor 15 Jahren ein Konzert mit dem Jazzpianisten Cecil Taylor gehört habe. Taylor sei so unerreichbar gut, sagt Kikuchi, dass er selbst Jahre dazu gebraucht habe, um nicht mehr auf dessen Können eifersüchtig zu sein.

Beim parallel zum JazzFest stattfindenden Total Music Meeting spielte Taylor am Freitagabend eines seiner schönsten Konzerte seit langem. Allein die in New York und demnächst in Tokio lebende Pianistin Satoko Fujii, die am Sonntagabend auftrat, konterte das beschämende Japan-Bild dieses JazzFests. Sie berichtete von einer hyperaktiven experimentellen Jazzszene in Japan und beklagte sich über die mangelhafte Recherche der JazzFest-Leitung, die es nicht geschafft habe, auch nur einen wichtigen aktuellen Jazzmusiker aus Japan nach Berlin zu bringen.

Cecil Taylors Konzert im Podewil war zumindest ein großer Trost für jene, die beim JazzFest mit allerhand Theoremen über „imaginäre Folklore“ und Akkulturations-Musiker abgespeist wurden, sodass einem der Jazz selbst auf einmal nur noch sehr imaginär, ja marginal vorkam. Das Arfi-Kollektiv erinnerte zwar daran, wie stark die besonders von der Sängerin bemühte Urschrei-Symbolik auf die französische Impro-Szene der 70er- und 80er-Jahre gewirkt hat. Aber so ganz losgelöst von den Strukturen des amerikanischen Jazz, wie man es versprochen hatte, waren diese Musiker zumindest bei der nächtlichen Arfi@night-Jamsession im Quasimodo dann doch nicht.

Man wollte bei diesem JazzFest auch zeigen, dass die kreativere Jazzszene heute in Europa und nicht mehr in den USA zu finden sei. Doch so richtig wollte das einfach nicht gelingen. Selbst Protagonisten der europäischen Szene wie Louis Sclavis und Tomasz Stanko mochten sich dieser These nicht anschließen. Sclavis betonte hingegen die Verantwortung der europäischen Musiker, für die staatliche Subventionierung ihrer Arbeit zu kämpfen, um amerikanische Verhältnisse abzuwehren. Dass kreative Improvisatoren aus den USA auf die Auftrittsmöglichkeiten in Europa angewiesen seien, habe mit sozialen Missständen in ihrem Heimatland zu tun.

Für den afroamerikanischen Bassisten William Parker, der zusammen mit dem Pianisten Matthew Ship und DJ Spooky ein politisch motiviertes High-Energy-Konzert im Tränenpalast spielte, ist die politische Selbstorganisierung der kreativen Musiker eine lebenslange Aufgabe. Seit 30 Jahren organisiert er schon entsprechende Grassroots-Festivals in der New Yorker Lower East Side. Die „audio anti-propaganda“ von DJ Spooky zielt gegen Bush und Krieg. In eingestreuten Samples ist viel von Revolution die Rede und vom „anderen Amerika“. Das war zwar um einiges übersichtlicher als die propalästinensischen und antizionistischen Hasstiraden des ex-israelischen Saxofonisten Gilad Atzmon, der am Sonntagabend das JazzFest beschloss, doch musikalisch funktionierte beides jeweils auf sehr eigene Weise äußerst überzeugend. Solche Acts machen deutlich, dass das JazzFest sich nicht selbst und ohne Not zu einem weiteren Multikulti-Dingens degradieren muss.

Ähnlich, wie man beim Haus der Kulturen der Welt in Berlin den Jazz vor die Tür gesetzt hat, könnte auch das JazzFest versuchen, sich an seiner Kernkomptenz zu erfreuen. Wege in die Bedeutungslosigkeit lauern jedenfalls an allen Ecken.