: „Das geht nicht ohne Hoffnung“
Helmut Baer
Der 54-jährige Schöneberger hat Krebs. Aus medizinischer Sicht ist er austherapiert. Seit August lebt er im Hospiz Schöneberg-Steglitz. Im Moment geht es Baer ganz passabel. Er hat keine Schmerzen, obwohl er nicht weiß, wie es wäre, wenn er keine Schmerzmittel bekäme. Baer war kaufmännischer Angestellter bei einer Immobilienfirma. Dort hat er auch seine 22 Jahre jüngere Lebensgefährtin kennen gelernt. Weil es Baer in der derzeitigen Situation doch wie ein Lottogewinn vorkommt, dass er einen Platz im Hospiz erhalten hat, ist er bereit, anlässlich der Hospizwoche über das, worüber sonst nicht geredet wird, zu sprechen. Er hofft, dass er anderen Kranken etwas von ihrer Angst nehmen kann.
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
taz: Herr Baer, wie geht es Ihnen?
Helmut Baer: Abgesehen davon, dass ich Krebs habe und die Ärzte meinen, sie können nichts machen, geht’s mir gut.
Seit wann kennen Sie die Diagnose?
Seit Juli.
Das muss ein Schock gewesen sein.
Ja, weil man mit so was nicht rechnet. Mit 54, da will man noch ein bisschen arbeiten und die Rente genießen.
Von Juli bis jetzt, das ist nicht viel Zeit, um sich damit auseinander zu setzen, dass man bald sterben wird.
Nein, nicht viel. Erst sagten sie, es ist Krebs. Dann, dass sie nichts tun können.
Seit wann leben Sie im Hospiz?
Seit Mitte August.
Wie ist es hier?
Ich wusste nicht, was ein Hospiz ist. Ich dachte, ’ne Art Siechenheim. Zwanzig Leute in einem Zimmer, die mit Essen versorgt werden. Aber die Leute im Krankenhaus haben mir das erklärt und organisiert, dass ich einen Platz bekomme.
Was ist das Hospiz für Sie?
Wie ’ne Mischung aus Hotel, Krankenhaus und Zuhause. Hier kann man sogar seine eigenen Bilder an die Wand hängen. Das finde ich schön. Ich hab sie noch nicht aufgehängt, aber da oben auf dem Schrank liegen sie schon.
Vermissen Sie Ihr echtes Zuhause?
Sehr. Aber ich kann da ja nicht hin, weil ich nicht laufen kann. Alles wegen dem Krebs. Ich kann nur so ein bisschen stehen, wenn mir jemand hilft.
Haben Sie sonst noch Handicaps?
Der Arm ist eingeschränkt. Der Krebs sitzt in der Schulter. Das hat mit Schulterschmerzen angefangen. Da denkt man: Gut, du hast dich verhoben.
Beschäftigen Sie sich damit, dass Sie aus medizinischer Sicht bald sterben werden?
Da denk ich nicht dran. Begreifen ist nicht, akzeptieren nicht, verstehen nicht – aber ich kann es auch nicht ändern. Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken bei so einer Krankheit.
Sie haben keine schlaflosen Nächte?
Nein.
Haben Sie Hoffnung, dass alles doch wieder gut wird?
Das geht nicht ohne Hoffnung. Meine Lebensgefährtin hat noch viel mehr Hoffnung als ich. Sie ist aber auch noch so jung. Erst 32. Zehn Jahre sind wir zusammen. Sie hat noch an Nachwuchs gedacht. Dann das.
Haben Sie jetzt das Gefühl, etwas zu versäumen?
Klar. Leben. Arbeiten. Verreisen. Geht ja schon los, wenn ’ne Familienfeier im zweiten Stock ist. Da kann einen niemand hoch tragen. Da sagt man schon: Schade, dass man nicht dabei ist.
Wohin wären Sie gerne gefahren?
An die Nordsee, nach Südtirol oder Asien.
Ihre Tochter ist in Asien.
In Kambodscha beim Entwicklungsdienst.
Sie haben sich letzten Monat von ihr für immer verabschiedet.
Musst ich ja. Anfang September ist sie rüber und kommt erst im Mai wieder.
Den Abschied von Ihrer Tochter haben Sie bewusst als Abschied für immer gestaltet?
Ja, weil man mit der Krankheit mit acht Monaten Leben nicht einfach rechnen kann. Aber jetzt geht es mir gut. Man sagt auch, es ginge mir besser. Vorher hatte ich noch den Arm gebrochen. Und dann der Tumor. Man ist ja selbst nicht von sich überzeugt, wenn es einem so schlecht geht.
Also vielleicht doch ein Wunder auf ein Wiedersehen?
Das weiß man nicht. Ich hab auch Bestrahlung gekriegt. Wenn die anschlägt und der Krebs zum Stillstand kommt, dann vielleicht. Der Krebs sitzt überall. Die Wirbelsäule runter, die linke Körperseite entlang. Die wissen halt nicht, wie lang ich das schon habe. Ob es ein aggressiver Tumor ist oder ob er schon lange in mir drin ist und nur langsam vorankommt.
Wann weiß man, ob die Bestrahlung wirkt?
In sechs Wochen. Dann muss ich wieder in die Röhre zum Röntgen. Ist unangenehm da drin, weil es so eng ist. Danach muss ich mit der Ärztin reden, was dann ist, wenn es stehen geblieben ist, keine Ahnung.
Und das Leben im Hospiz, wie ist es?
Das Hospiz ist ’ne klasse Einrichtung. Davon sollte es mehr geben. Man hat sein eigenes Zimmer. Man kann essen, wann man will. Es ist wie zu Hause. Zumindest vom Essen her. Es wird auch echt gekocht. Heute hat es Hühnerfrikassee gegeben. Das wurde selber ausgebeint.
Wenn Sie irgendwohin wollen, zu einem Hertha-Spiel oder ins Kino, dann hilft man Ihnen auch?
Das weiß ich nicht. Hab grad meinen Schwerbehindertenausweis bekommen und kenn mich mit dem Telebus noch nicht aus. Aber rausgehen, das möchte ich schon. Mal in den Botanischen Garten. Oder jetzt im Winter ins Aquarium. Nicht wegen dem Aquarium, da war ich ja schon. Es ist wegen der Abwechslung. Meine Lebensgefährtin und ich, wir versuchen, so oft rauszugehen wie möglich. Bei schönem Wetter auf die Terrasse oder mal rüber zum Sportplatz.
Die Leute vom Hospiz unterstützen Sie bei alldem?
Ja. Die Einstellung des Personals ist ’ne ganz andere. Die sehen in einem den Menschen, nicht den Kranken. Die sagen „Gäste“ zu uns, nicht „Patienten“.
Das Personal geht direkt auf Sie ein?
Das ist ’ne richtige Betreuung.
Auch geistige Betreuung?
Ja, wenn man das will. Die sind da, wenn man mal am Boden ist. Die stehen sogar meiner Lebensgefährtin bei, wenn sie traurig ist. Und dann hat man hier die ärztliche Betreuung. Es gibt die Home-care-Ärzte. Da entwickelt sich auch ein persönliches Verhältnis. Die nehmen einem die Schmerzen und manchmal sogar die Angst.
Bevor Sie krank wurden, haben Sie da über das Sterben nachgedacht?
Nee. Ist kein schönes Thema.
Der Tod wird ausgeklammert?
In unserer Gesellschaft schon.
Und jetzt klammern Sie den Tod auch aus, sagten Sie.
Man versucht zu verdrängen. Es geht nicht immer. Dann schnell mit was anderem beschäftigen. Fernsehen oder mit meinem Hobby. Ich sammle doch Bierdeckel. Da gibt es viel zu sortieren. Ich hab das ein paar Jahre lang schleifen lassen. Ich würde mal sagen, vielleicht würde ich noch mehr nachdenken, wenn ich bettlägrig wäre. Aber noch will ich nicht nachdenken. Man versaut sich damit den ganzen Tag.
Und Zukunft? Reden Sie manchmal darüber?
Ich mach das ungern. Man kann ja nicht planen. Man weiß nicht, was in einem Monat ist, in zweien. Gut, ein, zwei Monate – das geht vielleicht noch. Aber Weihnachten oder der Frühling – das ist schon weit weg.
Wenn Sie noch Hoffnung haben, verbinden Sie das mit Zukunft?
Hoffnung hab ich schon, aber wie lange? Ich hoffe, dass ich bald etwas gehen kann. Es gibt eben immer die zwei Seiten: Was die Ärzte sagen und was man sich wünscht. Aber die Ärzte halten sich zurück. Die können es nicht wissen, weil jeder Körper anders reagiert.
Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben möchten?
Ich will weiterleben. Alles andere wird sich ergeben. Ja, unbedingt leben.
Manchmal kann der Wille viel bewirken.
Das hab ich auch schon gehört.
Wie ist das für Sie, wenn jemand im Zimmer nebenan stirbt?
Ich nehm das zur Kenntnis. Ich meine, wenn ich mit dem vielleicht mal Karten gespielt hätte und sich ’ne Beziehung ergeben hätte, dann wär das was anderes. Aber nee, das ist nicht. Vielleicht kommt nächste Woche einer, mit dem man Karten spielen kann. Dann kann es anders sein.
Sie spielen gerne Karten?
Ich spiel alles: Monopoly, Mensch ärgere dich nicht, Scrabble. Das war eigentlich immer so.
Was bereitet Ihnen große Freude?
Das wüsste ich jetzt auch nicht. Man freut sich mal über ’nen schönen Geburtstag oder ’nen Urlaub. Aber große Freude – das kann ich Ihnen nicht beantworten. Gut, sechs Richtige im Lotto. Hatte ich aber nie.
Sind Sie ein Unglücksrabe?
Abgesehen jetzt vom Krebs bin ich kein Glückspilz, kein Pechvogel. Aufm Rummel hab ich allerdings immer nur Nieten gezogen. Nicht wie andere, die kaufen ein Los und gehen mit ’nem Teddybären nach Hause.
Möchten Sie gerne wieder mal auf den Rummel?
Nee. Das Schnelle liegt mir vielleicht noch, aber nicht das Hohe. Auf jedem Rummel dasselbe. Auf Straßenfesten waren wir gerne. Trinkt man hier was, isst da ’nen Happen.
Sie lieben das einfache Leben?
Ja. Ich muss keine Weltreise auf dem Kreuzfahrtschiff machen. Für mich sind die kleinen Sachen jetzt wichtig: Am Wochenende mit den Eltern meiner Lebensgefährtin essen gehen. Oder mal in unsere Stammkneipe und mit anderen reden. Normales Leben mitkriegen.
Wenn Sie sich jetzt mit Freunden treffen, reden Sie dann mit denen auch über den Tod?
Nein, mit Freunden will ich das nicht.
Sie harren lieber der Dinge, die kommen?
Was anderes bleibt mir nicht übrig. Ich kann es nicht beschleunigen, nicht verlangsamen, nicht verändern, nicht verbessern. Ich versuche, positiv eingestellt zu sein.
Sind Sie auch deshalb positiv eingestellt, weil Sie es Ihrer Lebensgefährtin leichter machen wollen?
Ich kann es ihr nicht leichter machen. Gut, ich könnte mich von ihr trennen. Sagen, du bist jung, leb dein Leben. Aber dazu bin ich zu egoistisch. Dazu liebe ich sie zu sehr.
Noch bis zum 30. Oktober findet die Hospizwoche statt. Sie steht unter dem Motto: „Leben bis zuletzt“. Programm: www.hospizwoche.de. Information zum Hospiz Schöneberg-Steglitz unter: www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de. Die Hospizgesetze sind sehr streng. Hospize müssen zehn Prozent ihres Budgets selbst erbringen. Deshalb sind sie immer auf Spenden und ehrenamtliche Mithilfe angewiesen.