piwik no script img

Archiv-Artikel

Ali wird alt

Oktay Urkal (34) verliert auch den Revanchekampf gegen Vivian Harris und wird seine Karriere wohl ohne WM-Gürtel beenden müssen

AUS BERLIN MARTIN KRAUSS

„Ich muss zugeben, dass ich langsam zu alt werde.“ Oktay Urkal ist 34 Jahre alt, und er hat es am Samstag im dritten Anlauf verpasst, Boxweltmeister zu werden. Ziemlich deutlich hat der Berliner das getan, denn er lief in der elften Runde einfach in einen rechten Haken seines Gegners Vivian Harris. Dann guckte er glasig, taumelte und musste dem Ringrichter dankbar sein, dass der ihn aus dem Kampf nahm. „Vor allem bei den leichteren Gewichtsklassen merkt man, dass man älter wird“, sagte Urkal später. Als Halbweltergewichtler war er mit etwas mehr als 63 Kilogramm in den Ring im Berliner Tempodrom geklettert. So leicht, da muss man schnell sein. Zumal Urkals Gegenüber Vivian Harris war. Der ist seit 2002 Weltmeister und bleibt es jetzt erst mal eine Weile. Harris ist erst 26 Jahre alt, stammt aus Guyana, lebt in Brooklyn, New York, und der Verband, der ihm den Weltmeistergürtel überreicht hat, die WBA, gilt als einer der renommiertesten in der nicht immer seriösen Szene des Berufsboxens.

„Wir werden nun wohl zur Kenntnis genommen“, sagte Emanuel Steward, der Trainer von Harris. Hat schon die WBA ein gewissen Ansehen und ist schon Harris ein exzellenter Boxer, so hebt sich Steward noch ein bisschen mehr ab: Der Amerikaner hat in Detroit das berühmteste Boxgym der Welt aufgebaut, das „Kronk“, und wenn er sich nachts im Kreuzberger Tempodrom auf die Treppenstufen setzt, um über die weiteren Perspektiven seines Boxers nachzudenken, ist das schon etwas Besonderes. Steward hat Harris zu einem exzellenten Boxer gemacht, einer, der dem über seinen Möglichkeiten kämpfenden Urkal immer noch ein bisschen voraus war.

Aber Steward schimpfte auch darüber, dass das Boxgeschäft nicht nur Leistung anerkennt. Die besten Halbweltergewichtler der Welt nämlich meiden Harris, denn der bietet Leuten wie etwa dem Engländer Ricky Hatton oder dem Amerikaner Floyd Mayweather nur die Chance, von ihm verprügelt zu werden, ohne dass sie dabei wenigstens große Kasse machen können. „Wir überlegen, ob wir nun einen Kampf gegen Ricky Hatton in Europa organisieren können“, sagte Steward, der außer Weltklasseleuten wie Lennox Lewis auch schon Graciano Rocchigiani betreute. „London oder Berlin“ sind konkrete Ortsvorschläge, die Steward macht. Denn in den USA kann einer wie Harris zurzeit nicht so ganz groß rauskommen. Einer größeren PR steht seine südamerikanische Herkunft im Wege. Daher hat sein Management schon vor einer Weile auf Berlin gesetzt. Im April diesen Jahres schlug Harris Urkal in der Max-Schmeling-Halle sehr umstritten und willigte nun zu einem Rückkampf ein.

Zumal Oktay Urkal, der sich gern „der Ali aus Kreuzberg“ nennt, für einen wie Harris ein idealer Gegner ist. Urkal ist technisch exzellent, war aber immer drei bis fünf Prozent schlechter als der gewandte und mit einem ungeheuren Schlagrepertoire arbeitende Harris. Urkal ist drei Zentimeter kleiner, was nicht viel, aber vielleicht ein entscheidendes Bisschen beim Vergleich der Reichweiten hilft. Der Berliner boxt gut und in der europäischen Spitze, aber Harris ist Weltspitze. Mit einem entscheidenden Schlag hätte man ihm vielleicht beikommen können, „aber Oktay ist ja auch nicht der große Puncher“, wie Profikollege Felix Sturm am Rande analysierte. Urkal ist alt und wurde erst spät Profi, nämlich mit 26 Jahren – so alt wie Harris jetzt ist. Und der Deutschtürke kann, gerade wenn er in Berlin boxt, für eine Atmosphäre sorgen, die Harris bei all seiner Qualität in den USA bislang vermisst hat.

Die Chancen für Vivian Harris, in Berlin zu gewinnen, waren also von Anfang an da. Und seine Chancen, wenigstens hier Beachtung zu finden, sind noch größer. „Hier werde ich respektiert“, rief er nach dem Kampf begeistert ins Publikum. Dass große Teile der fast 4.000 Zuschauer im Tempodrom ihn sogar nach seinem überzeugenden K.o.-Sieg noch auspfiffen, interessierte ihn nicht. „Es war ein großer Fight“, rief er, und als ihm partout nichts mehr einfiel, wie er vor dem nicht so recht höflichen Publikum seine Begeisterung ausdrücken könnte, brüllte er einmal ganz laut „Brooklyn“ in die Halle. Der Schrei drückte aus, was sich auch im Kampf gezeigt hatte. Vivian Harris war der bessere Boxer, aber seine Chancen so ganz und gar und völlig überzeugend zu nutzen, das gelingt ihm nur im Ring. „God bless you“, wusste der nur boxerisch überzeugende Sieger dem Publikum noch mitzuteilen.