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Archiv-Artikel

Renaissance der Relevanz

Durch das Leipziger „Dokumentar- und Animationsfimfestival“ weht ein frischerer Wind: Direktor Danielsen will es zu einem Branchentreff ausbauen – nur bei der Jury ist das noch nicht angekommen

AUS LEIPZIG NICOLA HOCHKEPPEL

Das „47. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm“, bisher bekannt als „Fenster zur Welt“ und politisches Filmfest mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa, wird nun zum Branchentreff ausgebaut: Eine Messe der Ideen, Umschlagplatz für fertige Produktionen, internationale Koproduktionen sowie Kontaktbörse für junge Talente soll es werden, folgt man den Ausführungen des neuen Direktors Claas Danielsen.

Mit frischem Wind hat der 37-jährige Hamburger Danielsen die gewachsenen Strukturen des traditionsreichen Festivals entstaubt, aufpoliert und nimmt mit seinem eingespielten Team Kurs auf die Film- und Fernsehwirtschaft. Das ist nicht nur bitter nötig, wenn man die finanzielle Situation des Festivals oder auch die Produktionsbedingungen des künstlerischen Dokumentarfilms betrachtet, sondern in seiner praktischen Konsequenz bestechend. So werden nun sämtliche Filmproduktionen für das internationale Publikum mit englischen Untertitelungen versehen.

Die „Goldene Taube“ ging an den hoch ästhetisierten Bilderfilm „Touch the Sound“ des Münchener Filmemachers Thomas Riedelsheimer, der als Eröffnungsfilm des Filmfestes bereits für Unverständnis gesorgt hatte.

In den vergangenen Jahren sind Dokumentarfilme eine feste Größe im internationalen Kinoprogramm geworden. Von den 25 erfolgreichsten Filmproduktionen weltweit liefen allein 17 Filme in den vergangenen drei Jahren an.

Sieben dieser verkaufsstärksten Dokumentarfilme wurden 2003 uraufgeführt, beispielsweise „The Fog of War“ gelistet auf Platz 10 und „Tupac: Resurrection“ auf Platz 6 (in Deutschland noch nicht angelaufen). In diesem Jahr starteten weitere sechs dieser Top 25, unter anderen „Super Size Me“, momentan auf Platz 4, und der Kassenknüller „Fahrenheit 9/11“.

Die AG Dokumentarfilm zählte in Deutschland vom Sommer 2003 bis zum Sommer diesen Jahres 55 neu angelaufene Filme. Auch die unzähligen dokumentarischen Formate angefangen von Doku-Soaps bis Reality-Dokumentationen der öffentlichen, wie privaten Fernsehsender stehen hoch in der Gunst der Zuschauer. Da liegt es nah, mit der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit zu argumentieren. Zunächst erlebten wir den amerikanischen Katastrophenfilm im Kino, und dann wurden wir Zeuge der Vernichtung vor den Bildschirmen –in Echtzeitübertragung. Das Leben schreibt nicht immer die schönsten Geschichten, aber die unglaublichsten, weil real. Es ist „wirklich wahr“ und erinnert zunehmend an Fiktion: „It’s like in the movies.“

Im Dokumentarfilm haben sich nicht nur sowohl die Produktionsbedingungen als auch Vertriebsstrukturen und Marketingstrategien geändert, sondern besonders die Erzählweisen, orientiert an der klassischen Spielfilmdramaturgie. Dass Zuschauer Unterhaltung suchen, wenn sie schon den Weg in die Lichtspielhäuser finden, ist nicht neu. Dass Dokumentarfilme zunehmend auf den Spielfilmbereich abstrahlen, hingegen schon.

Neben den Dogma-Filmen oder dem Überraschungserfolg von „Muxmäuschenstill“ begeistern Filmemacher wie Andreas Dresen oder auch Hans-Christian Schmid ein breites Kinopublikum mit dokumentarischen Mitteln. Diese Filmemacher verhandeln mit ihren Spielfilmen eindringlicher Themen von gesellschaftlicher Relevanz als der diesjährige Eröffnungsfilm und ausgezeichnete Dokumentarfilm. Aber glücklicherweise machen die Entscheidungen einer Jury allein noch nicht die Qualität eines Festival aus. Leipzig rockt!