: Der willfährige Arbeitnehmer
Bochum zeigt: Unternehmen sind von der Motivation, der Loyalität und dem Vertrauen ihrer Mitarbeiter abhängig. Verzichten sie darauf, handeln Arbeitnehmer entsprechend
Sechs Tage lang haben sich in Bochum die Beschäftigten informiert. Ungehört verhallten die Appelle, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das Argument war immer das gleiche: Man beschädige die Wettbewerbschancen gegenüber anderen Standorten. Jetzt wird sogar die fristlose Kündigung der Arbeitnehmer gefordert, die sich informiert haben. Sie gefährdeten den Rechtsfrieden, argumentiert ein Münchener Arbeitsrechtlers in der Welt vom vergangenen Freitag.
Damit wird der Rechtsfrieden allerdings höchst einseitig zulasten der Arbeitnehmer interpretiert. Schließlich war das Bochumer Informationsbedürfnis nur die Folge der dominant gewordenen Standortlogik. Man betrachtet heute die Arbeitnehmer als willfährige Manövriermasse, die sich den Diktaten aus den Unternehmenszentralen zu unterwerfen hat. Arbeitnehmer haben sich zu willenlosen Befehlsempfängern zu degradieren: Mitbestimmung über die eigenen Lebensverhältnisse oder Teilhabeansprüche gelten als überholt. Schließlich stünden weltweit unzählige andere Befehlsempfänger bereit, ihre Arbeit zu übernehmen. Das ist offenkundig ein Irrtum.
Moderne Industrien sind hochvernetzte und komplexe Produktionsorganisationen. Die Zeiten, wo man in diesem Gewebe einen Standort oder eine Belegschaft kurzfristig austauschen könnte, sind vorbei. Auch die alte Strategie, streikende Belegschaften notfalls zu feuern und durch neue Arbeiter auszutauschen, ist keine Alternative mehr. In diesen Produktionsprozessen braucht man Kompetenzen, die sich nicht mehr so einfach ersetzen lassen wie etwa noch zu Henry Fords Zeiten seelenloser Massenfabrikation. Ohne die Motivation der Belegschaften, ohne deren Bereitschaft zum Engagement, ohne deren Loyalität zum Unternehmen ist im 21. Jahrhundert keine moderne Fertigung mehr möglich. Wenigstens nicht bei so hochkomplexen Produkten, wie es Autos nun einmal sind. Das müssen die GM-Strategen in Detroit und ihre Herolde in Teilen der deutschen Presselandschaft glatt vergessen haben: Sie handeln, wie es die Managementtheorie des willenlosen Arbeitnehmers verlangt. Ohne Rücksicht auf die Interessen der Arbeitnehmer wurde ein Sanierungsdiktat auf den Tisch gelegt, dem sich Arbeitnehmer und deren Gewerkschaften fügen sollten. Ansonsten drohte die Sanktion: Werksschließungen.
Diese Handlungsweise ist nicht aus moralischen Gründen zu kritisieren. Diese interessieren weder in Detroit noch in der Europafiliale in Zürich. Vor der Moral kommt das Geschäft. Und GM hat tatsächlich nicht nur in Europa Probleme. So kann es in den USA seine zweitklassigen Produkte nur noch mit hohen Rabatten absetzen. GM hat einen größeren Sanierungsbedarf als seine deutsche Tochter. Daran besteht kein Zweifel. Die Frage ist nur, wie die Sanierung betrieben werden wird.
Die Strategie der Degradierung der Arbeitnehmer zur reinen Verfügungsmasse wird allerdings scheitern. Bochum hat es gezeigt. Die Opel-Belegschaft hat die Signale aus Detroit und Zürich verstanden. Motivation, Engagement und Loyalität sind offenkundig überflüssig geworden. Es zählt nur noch das nackte Eigeninteresse. Wenn GM auf diese Tugenden verzichtet, wird die Belegschaft genauso handeln. Also geht es nur noch darum, den Konzern so weit unter Druck zu setzen, dass man möglichst viel aus dem Unternehmen herausholen kann.
Ist das nicht möglich, wird man alles tun, um sich für die Handlungsweise des Managements zu revanchieren: Dann soll wenigstens ein Konzern geschädigt werden, der einen zum Objekt degradiert und in die Arbeitslosigkeit treibt. Der willfährige Arbeitnehmer funktioniert nicht der Theorie entsprechend: Er zeigt eigenen Willen und wird rebellisch.
Wenn die Arbeitnehmer in Bochum nicht mehr arbeiten, wird GM in kurzer Zeit mehr verlieren, als das Unternehmen überhaupt in einem Jahr einsparen könnte. Die Theorie des willfährigen Arbeitnehmers erweist sich als eine hohle Phrase: Auch heute noch kann kein Produkt ohne die Arbeitnehmer hergestellt werden. Aber wenn sie für ihre Motivation, ihr Engagement und ihre Loyalität keine Gegenleistung mehr erwarten können, werden sie entsprechend handeln – und in Zukunft nur noch ihre kurzfristigen Interessen durchzusetzen versuchen. Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen – oder auch ganze Werke, die nicht kurzfristig ersetzt werden können – werden dann in betrieblichen Bündnissen ihre Macht ausspielen.
Unternehmen brauchen aber das Vertrauen in den gesicherten Ablauf ihrer komplexen Produktionsprozesse, weil selbst kleine Störungen schwerwiegende Konsequenzen haben können. Sie brauchen das, was sie ihren Mitarbeitern zunehmend verweigern: Vertrauen. Diese Asymmetrie fällt heute noch nicht auf. Man ist von der disziplinierenden Wirkung der Weltmarktkonkurrenz auf die Arbeitnehmer überzeugt. Deshalb auch die höhnischen Bemerkungen eines Michael Rogowski oder Hans-Olaf Henkel über den „sozialen Konsens“, der in Deutschland etwa in der Mitbestimmung seinen Ausdruck gefunden hat. Das über Jahrzehnte akkumulierte Vertrauenskapital wird auf diese Weise entwertet. Damit wird aber auch eine für beide Seiten nützliche Form der Konfliktverarbeitung beendet. Die in Deutschland im internationalen Vergleich eher seltenen Streiks waren eben kein Zufall.
Die Folgen dieses Vertrauensverlustes sind vorhersehbar. Warum sollen Arbeitnehmer in Zukunft nicht mit der Drohung von Informationsveranstaltungen Zugeständnisse der Unternehmen erpressen? Wenn das Unternehmen dann untergehen sollte? Na und? Unter anderen Bedingungen werden sie ja auch ausgemustert wie ein Paar überflüssig gewordener Schuhe. Wen interessiert das dann noch?
Die Forderung nach mehr Flexibilität kann man auch anders verstehen. An hochqualifizierten Arbeitnehmern wird es in Zukunft eher einen Mangel als einen Überfluss geben. Selbst wenn die Unternehmen auf die überflüssig gewordenen Tugenden der Arbeitnehmer nicht mehr vertrauen könnten, blieben sie auf deren Arbeitskraft angewiesen. Die Theoretiker des willfährigen Arbeitnehmers sollten sich keine Illusionen machen: Auch an anderen Standorten will man nicht nach dieser Theorie behandelt werden.
Auf diese Weise zerstört sich das Produktionssystem selbst. Ein System, das auf die Tugenden angewiesen ist, die das zeitgenössische Management systematisch untergräbt, ist nicht überlebensfähig. Wer meint, die Arbeitnehmer und ihre Interessenorganisationen zu bloßen Objekten degradieren zu müssen, sollte sich also über die Konsequenzen nicht wundern. Das hat die letzte Woche deutlich gemacht. Engagement, Motivation und Loyalität sind keine Einbahnstraße. Das war der Kern der Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit seit dem 19. Jahrhundert. Wie wir sehen, ist dies heute wieder aktuell geworden. Man hatte es nur vergessen: Es wird Zeit, es wieder in Erinnerung zu bringen.
FRANK LÜBBERDING