Total vokal

Ich artikuliere mich, also bin ich: Im ZKM in Karlsruhe ist eine Ausstellung über die menschliche Stimme als Medium angelaufen. Sie zeigt, wie vielfältig deren kulturelle und soziale Geschichte ist

VON MICHAEL EGGERS

Es ist noch nicht so lange her, seit unser kollektives Gedächtnis auch von Stimmen geprägt wird. Stimmen im eigentlichen Sinn, in ihrer klanglichen Unverwechselbarkeit. Die Stimmen von Willy Brandt, Heinz Rühmann oder Louis Armstrong kann jeder mental abrufen. Und weil sie das Radio gezielt als wirkungsvolles Machtinstrument einsetzten, sind Hitler und Goebbels wohl die ersten Politiker, die wir unfreiwillig im Ohr haben. Individuelle Timbres und Sprechweisen gehören erst seit der zunehmenden Verbreitung der audiovisuellen Medien zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts zum Inventar der Kulturgeschichte. Wie aber mag Hugo von Hofmannsthal geklungen haben, oder Kaiser Franz Joseph I. – Personen, deren öffentliche Präsenz noch nicht durch Film, Funk und Fernsehen hergestellt wurde? Im Karlsruher Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) kann man es sich derzeit anhören. Die dort bereitgestellten Fonogrammarchive sind Teil der Ausstellung „Phonorama“, die die Geschichte des Mediums Stimme präsentiert.

Diese Geschichte umfasst allerdings weit mehr als nur die technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemöglichkeiten. Seit der Antike hält sich die Vorstellung, dass sich in der mündlich artikulierten Sprache die Persönlichkeit begründet, ihre ganze emotionale und sinnhafte Ausdrucksfähigkeit. Mit dem Aufkommen der modernen Demokratie ist die Stimme unsere Leitmetapher für die Artikulation eines politischen Willens geworden, sei es als Stimme des Volkes, des Wählers oder des Protests. Folgt man schließlich dem Medientheoretiker Walter J. Ong, dann leben wir in einer Zeit der „sekundären Mündlichkeit“, die, seit die elektronischen Medien alltäglich und millionenfach Stimmen senden, die Dominanz der Schrift verdränge. Allein das große Interesse, das die Stimme während der letzten zehn Jahre in den Kulturwissenschaften auf sich gezogen hat, spricht für diese These. „Kurzum, die Stimme ist nicht ersetzbar“, so Kuratorin Brigitte Felterer im Katalog.

Eine Feststellung, gegen die allerdings in einer der gezeigten Installationen heftig protestiert wird. Wolfgang Georgsdorf hat in seinem Video „Talking Hands“ Gehörlose aufgenommen, die in österreichischer Gebärdensprache Stellung zu politischen und kulturellen Themen nehmen. Stummes, aber lebhaftes und eindrucksvolles Manifest einer Sprachminderheit, deren Situation auf der Leinwand daneben noch zugespitzt wird. Denn hier lässt sich ein seltenes Ereignis verfolgen: die Stimmen von Gehörlosen, zum Chor arrangiert. Zwanzig taube Jugendliche, aufgereiht vor einem Kirchenaltar, singen eine Kantate von Bach. Das Ergebnis hört sich an wie organisiertes Chaos, mit größter körperlicher Anstrengung gelenkte Willkür. Artur Zmijewskis Performance ist ein anrührender Protest gegen eine jahrhundertlange paradoxe Erziehungspolitik, mit der man Menschen, die sich selbst nicht hören können, beibringen wollte, ihre Stimmbänder zu benutzen, um sie so „normal“ wie möglich zu machen – bis die Gebärdensprache begann, sich durchzusetzen.

Von der Normierung zur Idealisierung: Der Gesang der Kastraten galt lange Zeit als das Höchstmaß stimmlicher Perfektion. Nachdem sie zuerst im 16. Jahrhundert in der Kirchenmusik zum Einsatz kamen, wurden die Kastraten in der Oper zu wahren Stars, deren Auftritte von ekstatischen Szenen der Fans begleitet waren.

Der letzte Inhaber einer solchen „Engelsstimme“, der auch nach dem Verbot der Kastration durch päpstliches Dekret noch im Chor der Sixtinischen Kapelle sang, ist auf einer Aufnahme von 1904 zu hören – „zu bewundern“ wäre übertrieben, denn das „Domine Salvum“, das er intoniert, klingt doch reichlich schief.

Einen Gegenpol zu diesem klassisch genormten Timbre, dabei aber noch unmittelbarer religiös inspiriert, bilden die improvisierten Zungenreden der Angehörigen amerikanischer Pfingstgemeinden, die ein Film von Valie Export, Ingrid und Oswald Wiener dokumentiert. Das unverständliche rhythmische Schnattern, Stammeln und Brabbeln, in das sie während des Gottesdienstes verfallen, ermöglicht nach ihrer Überzeugung eine intensive Nähe zu Gott, die auf das biblische Pfingstwunder zurückzuführen ist. Den unbedarften Betrachter erinnert es eher an freien Jazzgesang.

Im Mittelpunkt der Ausstellungsräume steht indessen ein ganz anderes Wunder: die berühmte Sprechmaschine von Wolfgang von Kempelen. Die komplizierte Holzkonstruktion von 1790 stellt einen mechanischen Nachbau der menschlichen Sprachinstrumente dar, hat Lunge, Mund und Nase und wurde mit den Händen bedient. Was sie – in mehreren Sprachen – von sich gibt, klingt zwar nicht schön, aber mit Fantasie durchaus verständlich und hat zeitgenössisch ein immenses Aufsehen erregt: eine sprechende Stimme, die nicht aus einem menschlichen Körper kommt. Was für uns ganz gewöhnlich ist, muss damals einen unheimlichen, sensationellen Effekt gehabt haben.

Die Polyfonie in den abgedunkelten Räumen des ZKM wird gesteuert durch die jeweilige Position des Besuchers, und mitunter kommt es zum Cocktailparty- Effekt, wenn man sich darauf konzentrieren muss, im Durcheinander eine bestimmte Stimme herauszuhören. Manche Information, die erst der reichhaltige Katalog liefert, hätte man sich an Ort und Stelle gewünscht. Trotzdem ist in dem umfassenden Arrangement dieses ursprünglichsten aller Medien viel zu entdecken, von den Stimmen Verstorbener über die Röntgenaufnahmen eines röhrenden Hirsches bis zu Frank Zappa, der William S. Burroughs’ Geschichte vom „talking asshole“ vorliest – von einer Stimme also, die sich selbstständig macht.

Bis 30. Januar, Katalog (Matthes & Seitz) 34,80 €