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Archiv-Artikel

Fu ruft nur die Kleinen

Ihr Leben besteht aus Ausreden, Vermeiden und Furcht vor Entdeckung: Rund vier Millionen Analphabeten gibt es in Deutschland, nur ein Bruchteil lernt Lesen und Schreiben. So an der Bremer Volkshochschule – ein Erfolgsmodell

von MARTIN RÜCKER

Fara sucht Fu. Fu ruft Uta. Mit Sätzen wie diesen bringen Lehrer Erstklässlern Lesen und Schreiben bei. Die gleiche Aufgabe hat Monika Wagener-Drecoll seit einem Vierteljahrhundert an der Bremer Volkshochschule (VHS) – mit einem Unterschied: Ihre „Erstklässler“ sind gestandene Erwachsene. In den Kursen „Lesen und Schreiben von Anfang an“ verzichtet sie deshalb auf Fara, Fu und andere sprechende Socken. „Am Anfang gab es überhaupt kein Material, nur das aus der Grundschule“, sagt Wagener-Drecoll. „Omi sucht oder so was. Das konnte man mit Erwachsenen nicht machen.“ Aus der Not wurde eine Tugend: Heute entwickelt die 51-Jährige das Übungsmaterial für die großen ABC-Schützen selbst – erwachsenengerecht: Einkaufszettel, Überweisungsträger, Behördenformulare.

Als Wagener-Drecoll Ende der 70er Jahre die ersten Kurse für Erwachsene leitete, galt Analphabetismus als Problem der Dritten Welt. Wie viele Menschen auch hier nicht oder nicht gut genug lesen und schreiben können, war nicht bekannt. Heute schätzt die UNESCO die Zahl auf vier Millionen in Deutschland; in Bremen sind es nach Angaben des Bundesverbandes Alphabetisierung mehr als 26.000.

Damals häuften sich anonyme Anfragen nach einem Angebot, Lesen noch einmal ganz von vorn zu lernen, und in Rechtschreibkursen der VHS fielen Menschen auf, die hoffnungslos überfordert waren. 1978 begannen die ersten Alphabetisierungskurse. „Wir haben damals über das Radio einen Aufruf gemacht und damit gerechnet, dass vielleicht fünf oder sechs kommen“, sagt Wagener-Drecoll. „Und dann kamen auf Anhieb 30 Menschen. Das hat mich ziemlich geschockt.“ Aus den zwei Kursen von damals sind bis heute zwölf geworden mit insgesamt mehr als 100 Teilnehmern. Und das Bremer Modell macht Schule. Nach und nach entstehen in allen Großstädten entsprechende Angebote. Überall kommen die in Bremen entwickelten Arbeitsmaterialien zum Einsatz.

„Es wird zum Beispiel was an die Tafel geschrieben, dann wird sie umgedreht und wir schreiben das selbst auf“, erzählt eine Kursteilnehmerin, die hier Bärbel heißen soll. Und mit Stolz sagt sie: „Es sind zwar noch Fehler bei, aber es klappt schon sehr gut.“ Bärbel gehört zu den rund 20 Prozent der Teilnehmer, die mit dem Lesen und Schreiben ganz am Anfang beginnen mussten. „Ich konnte gar nichts“, sagt die etwa 50 Jahre alte Bremerin. „Ich konnte nicht mal meinen Namen schreiben. Den habe ich immer von einem Brief abgeschrieben.“ Nur unter Tränen erinnert sie sich an ihre kurze Schulzeit. Sonderschule, nicht einmal fünf Jahre. Lange führt Bärbel ein Leben aus Tricks, stets auf der Hut, ihr Geheimnis könnte entdeckt werden. Als der Ehemann merkt, dass Bärbel nicht lesen kann, kennen sie sich seit sechs Jahren. Ein ständiges Brille vergessen, Hand verletzt, „Mach Du mal, ich habe keine Lust“. Raus kommt es durch eine ganz banale Situation: „Mein Mann sagte zu mir: ,Guck doch mal, was in der Fernsehzeitung steht!‘ Da bin ich dann erstmal rot geworden.“ Es soll noch Jahre dauern, bis Bärbel den Mut fasst, zu einem Kurs zu gehen. „Ich habe mich geschämt, und ich dachte, ich bin vielleicht die einzige.“ Doch bevor Enkelkinder kommen, überwindet sie sich. „Oma, liest Du mir was vor?“ – wenn die Frage kommt, will Bärbel keine Ausrede suchen müssen.

Bei vielen Kursteilnehmern hat es ähnlich lange gedauert, bis sie die zweite Chance ergriffen haben. „Ich dachte: Du kannst das nicht. Du bist zu doof“, sagt Bärbel. Dass es daran keineswegs liegt, bestätigt Wagener-Drecoll: „Ich denke, dass jeder das Lesen und Schreiben nachträglich lernen kann. Ich habe hunderte von Teilnehmern gehabt, aber Dumme sind mir da nicht untergekommen.“ Doch diese Schwelle will erst einmal überwunden werden. Wie groß sie ist, belegen die Zahlen: Der Bundesverband Alphabetisierung geht davon aus, dass in Deutschland jährlich etwa 20.000 Menschen VHS-Kurse besuchen. Doch er schätzt, dass zu den vier Millionen Analphabeten Jahr für Jahr etwa 80.000 dazukommen – fast alle diejenigen, die ihre Schullaufbahn ohne Hauptschulabschluss beenden. Das Rufen Fus haben sie überhört.

Kontakt für Lese- und Schreibkurse der VHS Bremen: Tel. 0421/361-3675