Rückkehr nach Pensionopolis

Görlitz im Osten schrumpft. Gerade diese neue Übersichtlichkeit soll die Stadt attraktiv für Ruheständler machen. Der Plan scheint zu funktionieren
AUS GÖRLITZ HANNES KOCH

Sie aßen italienisch in einem großbürgerlichen Jugendstilrestaurant: die 83-jährige Lore Eisenlohr, weißhaarige Offizierswitwe mit schwarz nachgezogenen Augenbrauen, und ihr alter Bekannter Günter Frühling. Da rutschte es heraus, unschuldig und folgenschwer: „Eigentlich könnte man doch auch hier wohnen.“ Günter hakte ein: „Ich komme mit, aber dann will ich dich heiraten.“

Ort der Sehnsucht und des Glücks war kein wohlhabendes Dorf im Allgäu, nicht Paris und auch nicht Venedig, sondern eine schrumpfende Stadt weit im Osten Deutschlands: Görlitz an der Neiße. Das Liebespaar, das zusammen 161 Jahre alt ist, fackelte nicht lange – wenige Monate später fand die Trauung im Görlitzer Rathaus statt.

Halbe Sachen macht die Familie Eisenlohr auch sonst nicht. 2004 zieht Lores Sohn Siegfried, ein munterer 60-jähriger Lehrerpensionär, mit seiner Frau Inge ebenfalls an die Neiße. Die Flucht aus dem Westen war eine vollständige: Die beiden verkauften ihr Haus in Hessen, auch ihren halb fertigen Alterssitz in der südfranzösischen Provence. Jetzt bewohnen sie ein neues Zwei-Etagen-Domizil in der Görlitzer Altstadt mit Terrakottaboden, mediterranem Terrassengarten und Gitarre neben der Ledercouch.

Was suchen die Leute hier an der deutschen Grenze, wo der Wohlstand, der schon auf westlicher Seite rissig erscheint, jenseits des Flusses, in der polnischen Schwesterstadt Zgorzelec, noch um einige Grade abfällt? Als Mädchen und junge Frau hat Lore Eisenlohr hier „die schönste Zeit“ ihres Lebens verbracht – bis Krieg und DDR die Familie in den Westen trieben. Außerdem, fügt Schwiegertochter Inge hinzu: „Wir sind Augenmenschen.“

Das Auge findet tatsächlich einiges in Görlitz. Die 60.000-Einwohner-Stadt zeichnet sich aus durch wunderbare Wohnquartiere. Intakte Straßenzüge aus der Gründerzeit wechseln mit großzügigen Alleen des Jugendstils und mit noblen Stadtvillen – erste Adresse für Filmproduktionen, die das Berlin oder Paris der 1920er-Jahre suchen. Andererseits: Görlitz schrumpft rapide. Zu wenige Jobs, die Jungen ziehen weg. Die Stadt ist heute nach Baden-Baden eine der ältesten Deutschlands – nicht historisch, sondern am Alter ihrer Bevölkerung gemessen. Knapp 22 Prozent der Einwohner sind jenseits der 65. Hier kann man schon heute studieren, wie die deutsche Gesellschaft in 30 Jahren aussehen wird.

Wohin entwickelt sich die Stadt Görlitz? Schon vor 100 Jahren trug die Stadt den Beinamen „Pensionopolis“. Ausgediente Offiziere und Beamte ließen sich hier nieder, viel Bildungsbürgertum. Die Bürgermeister konnten ihre reiche Klientel mit Steuervorteilen locken, man investierte in Kultur, Bibliotheken, Parks. Lässt sich daran für die Zukunft anknüpfen? Ein paar Leute immerhin gibt es, die ökonomische Funken aus der Überalterung zu schlagen versuchen.

Zum Beispiel der Leiter des Stadtplanungsamtes, Lutz Penske. „Die Stadt soll sich zusammenziehen“, sagt er. Keine Tentakeln ausbilden, keine Supermärkte auf der grünen Wiese, lieber Geschäfte in der Innenstadt. Denn das sei gut für die alten Leute, die brauchen dann nicht so weit zu fahren: eine funktionierende Stadt, fußgängerfreundlich und mit kurzen Wegen als Standortvorteil. Weil Görlitz mit seinen Jugendstiljuwelen locken kann, scheint das auch einigermaßen zu funktionieren.

Über seine Statistiken gebeugt, macht Penske ein fröhliches Gesicht. Erstmals seit langem habe in jüngster Zeit die Bevölkerung in manchen Innenstadtquartieren nicht mehr ab-, sondern zugenommen. Ruheständler aus Hamburg und Frankfurt seien zugezogen, aber auch junge Familien, die sich ein Haus mit Garten zehn Minuten vom Marktplatz leisten könnten.

Und auch Joachim Schulze, Professor für Sozialwesen, spricht viel über den Wirtschaftsfaktor Alter. Sein Arbeitgeber, die Fachhochschule Zittau-Görlitz, schwebt ihm vor als Bildungskonzern, der „Alterung als Entwicklungsstrategie“ begreift. Im Angebot hat er diverse Projekte. Einmal den Masterstudiengang Soziale Gerontologie, zum anderen die Gründung eines Instituts für Transformationsforschung. Idee bei beidem: Görlitz nimmt sein Alter ernst und lockt damit junge Leute an. Wer weiß, vielleicht lässt sich daraus ein Wirtschaftskreislauf stricken.

Selbst für die Familie Eisenlohr könnten sich Schulzes Weiterbildungsangebote dereinst als interessant erweisen. Wie die Eisenlohrs so sind: Inzwischen ist auch die dritte Generation im Osten angekommen. Sozialpädagogin Judith (28) hat mit ihrem Mann ein altes Bauernhaus in der Nähe von Görlitz ausgebaut.

Hinweis: GÖRLITZ Einwohner: 59.284Davon über 65: 12.996Arbeitslose: 7.210Abwanderer: 641(alle Zahlen 2002)