: Der Fall Agent Orange
AUS HANOI SVEN HANSEN
In einer Abteilung des Tu-Du-Hospitals in Ho-Chi-Minh-Stadt bietet sich Besuchern ein Kabinett des Grauens. In hunderten Gläsern mit Formaldehyd sammeln die Ärzte hier seit 1976 missgebildete Föten sowie die Körper tot geborener Kinder zu Studienzwecken. In Vietnam häufen sich Fehl- und Totgeburten, Missbildungen sowie Krebs und andere schwere Krankheiten. Mediziner machen dafür den Einsatz des dioxinhaltigen Agent Orange verantwortlich. Damit wurden große Gebiete Südvietnams während des Kriegs besprüht, der hier der Amerikanische genannt wird.
Schätzungsweise zwei bis vier Millionen Vietnamesen leiden an den Folgen von Agent Orange, darunter 200.000 Kinder. Dreißig Jahre nach dem Krieg werden noch immer Kinder, deren Eltern oder Großeltern Agent Orange ausgesetzt waren, mit schwersten Behinderungen geboren. Das Dioxin wirkt als genetische Zeitbombe.
Jetzt fordern die Opfer, denen der vietnamesische Staat nur wenig helfen kann, erstmals in den USA Entschädigung. Phan Thi Phi Phi, die vier Fehlgeburten hatte, initiierte eine Sammelklage gegen die Produzenten von Agent Orange. Von April 1966 bis Juli 1971 leitete Phi Phi in der südvietnamesischen Provinz Quang Nam das staatliche Hospital Nummer eins. Es lag in der Nähe des Ho-Chi-Minh-Pfades, des von Urwäldern geschützten Nachschubwegs des Vietcong. Dort wurde besonders viel des giftigen Herbizids versprüht.
„Das Gebiet wurde von der US-Luftwaffe bombardiert. Wir wurden ständig evakuiert und mussten mit dem Krankenhaus mehrfach umziehen“, sagt die heute 69-jährige Ärztin. „Unser Krankenhaus wurde nicht direkt mit Agent Orange besprüht, aber unsere Nahrung von den Feldern und das Trinkwasser aus den Flüssen war verseucht. Wir wussten nichts von Agent Orange, Dioxin und der gesamten Problematik.“ Vor dem Krieg hatte Phi Phi eine gesunde Tochter zur Welt gebracht. Doch zwischen Dezember 1971 und Juli 1973 erlitt sie dann vier Fehlgeburten. Phi Phi, die bis vor kurzem Professorin am Medizinkolleg in Hanoi war, ist überzeugt, dass Agent Orange die Ursache ist.
Am 30. Januar dieses Jahres verklagte sie zusammen mit zwei weiteren Opfern und einer von ihr mit initiierten vietnamesischen Opfervereinigung vor einem amerikanischen Bundesgericht in New York 36 US-Chemiefirmen, darunter Dow Chemicals und Monsanto. Sie alle hatten früher für das US-Verteidigungsministerium Agent Orange hergestellt. Der Hauptvorwurf: Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verheimlichen der Gefahren des hochgiftigen Dioxins.
„Die US-Regierung zu verklagen ist juristisch nicht möglich“, erklärt Phi Phis New Yorker Anwalt Constantine P. Kokkoris. Er gehört zur Internationalen Vereinigung Demokratischer Anwälte und vertrat bereits Angehörige von Holocaust-Opfern erfolgreich bei ihren Klagen gegen Schweizer Banken in den USA. Er sieht auch Parallelen zu den Anklagen deutscher Industrieller bei den Nürnberger Prozessen.
In den letzten Monaten schlossen sich über zehn Anwälte und mehr als zwanzig vietnamesische Opfer den Klagen an. Weitere stehen bereit. Zuständig ist der 1967 vom damaligen US-Präsidenten Johnson auf Lebenszeit ernannte Bundesrichter Jack B. Weinstein. Vor dem heute 82-Jährigen wurde 1979 bis 1984 eine Sammelklage von US-Veteranen gegen die sieben wichtigsten Agent-Orange-Produzenten verhandelt. Weinstein drängte sie zu einer außergerichtlichen Einigung. Die Konzerne zahlten den 230.000 US-Opfern 180 Millionen Dollar Schadensersatz, ohne formal die Schuld anzuerkennen.
Mit der Zahlung hatten die Konzerne das Kapitel Agent Orange abgeschlossen zu haben geglaubt. Die Einigung schloss spätere Klagen ausdrücklich aus. Doch die Rechnung wurde ohne die Vietnamesen gemacht. „Die Amerikaner hatten bis 1994 ein Embargo gegen uns verhängt, sodass wir damals nicht klagen konnten“, sagt Phi Phi.
Nach der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Hanoi und Washington hätten die Vietnamesen die Amerikaner nicht gleich damit konfrontieren wollen, erklärt Nguyen Trong Nhan. Der frühere Gesundheitsminister ist heute stellvertretender Vorsitzende der Vietnamesischen Opfervereinigung. „Vietnam hilft den USA bei der Suche nach verschollenen US-Soldaten. Das ist ein humanitärer Beitrag unsererseits. Wir hatten umgekehrt auch auf humanitäre Schritte der USA gehofft, aber leider haben sie nicht reagiert. Vietnams Opfern blieb keine andere Wahl, als vor Gericht zu ziehen.“
Die vietnamesische Regierung hat 1998 selbst einen Hilfsfonds für die Opfer aufgelegt, aus dem bisher 200.000 unter den Spätfolgen von Agent Orange leidende Veteranen mit umgerechnet 4,50 bis 15 Euro pro Monat unterstützt werden. Vor den Toren Hanois wohnen in der Provinz Ha Tay einige Agent-Orange-Opfer. Eine Häusergruppe, die von weitem nach einer Siedlung für Aufsteiger aussieht, entpuppt sich aus der Nähe als internationaler Versuch, wenigstens das Leid einiger Opfer zu lindern. Ein früherer US-Soldat, der als Einziger seiner Einheit den Krieg überlebte, hatte die Idee zu diesem Dorf der Freundschaft genannten Rehabilitationszentrum. „Seit 1998 haben wir hier 1.100 Veteranen und 250 Kinder betreut“, sagt Nguyen Khan Hung, der Direktor des mit Spenden finanzierten Orts der Versöhnung.
„1967 wurde ich in Quang Tri direkt besprüht“, sagt Pham Din Van, der hier behandelt wird. „Mein Körper war nass von Agent Orange. Ich bekam Fieber und Kopfschmerzen.“ Der 71-jährige Veteran hat Prostatakrebs. „Ich würde mich gern der Klage anschließen, aber ich kann nicht lesen und schreiben“, sagt er. Der Veteran To Ngoc Cam möchte zu seinem Leid nichts sagen. „Das ist nicht wichtig“, sagt der 75-Jährige. „Aber helft den Kindern!“
Behinderte Kinder werden im Dorf unterrichtet, produzieren Papierblumen und lernen nähen. Angesichts der vielen Fälle ist das Angebot hier nur ein schwacher Trost. „Die zweite und dritte Generation leidet am meisten unter Agent Orange“, sagt Direktor Hung.
Auch von den US-Veteranen sind inzwischen einige erkrankt, die 1984 noch gesund waren und deshalb keine Entschädigung gefordert hatten. Doch der 180-Millionen-Fonds ist längst erschöpft. So sehen sich die US-Chemiefirmen nun mit weiteren Klagen konfrontiert. Dieses Mal arbeiten Veteranen, Vietnamesen und ihre Anwälte zusammen. „Wir müssen die gleichen Dinge nachweisen“, sagt Anwalt Kokkoris. So profitieren die Vietnamesen auch von Forschungen, die in den letzten Jahren im Auftrag der US-Veteranenbehörde und sogar des US-Kongresses durchgeführt wurden.
Die Chemiefirmen behaupten noch heute, ein Zusammenhang zwischen Agent Orange, Fehlgeburten, Missbildungen, Krebs und anderen Krankheiten sei nicht nachweisbar. Die Verantwortung für den Einsatz von Agent Orange trage allein die Regierung, nach deren Anweisungen die Firmen die Herbizide produziert hätten. „Agent Orange wurde nur zur Lieferung an die US-Regierung zum militärischen Gebrauch produziert“, sagt Scot Wheeler, Sprecher von Dow Chemical. „Einzig das Militär kontrollierte, wie, wo und wann Agent Orange eingesetzt wurde.“ Darum sei es auch Sache der Regierungen, mögliche Ansprüche zu regeln.
Die Opferanwälte werfen den Firmen vor, die US-Regierung nicht über die Risiken aufgeklärt zu haben. Mit der Lieferung von Agent Orange hätten sie sich mitschuldig am völkerrechtswidrigen Einsatz der Gifte gemacht. Ausgerechnet bis zum 2. November, dem Tag der US-Wahl, müssen die Chemiefirmen auf die Klageschrift der vietnamesischen Opfer antworten. Am 13. Januar 2005 will Richter Weinstein entscheiden, ob es zur Hauptverhandlung kommt. Opferanwalt Kokkoris ist optimistisch, diese Hürde zu nehmen. Er konzentriert sich bereits darauf, mithilfe der neuesten Forschungen den kausalen Zusammenhang zwischen Dioxin, Fehlgeburten, Missbildungen und Krebs darzulegen.
Klägerin Phi Phi räumt ein, es sei schwierig, zweifelsfrei nachzuweisen, dass ihre Fehlgeburten Folge von Agent Orange waren: „Wir können das nicht unbedingt direkt beweisen, aber einen logischen Zusammenhang herstellen, der unter Wissenschaftlern akzeptiert ist.“ Wie ihr Anwalt rechnet sie mit einem langen Verfahren: „Ich weiß nicht, ob ich das Urteil noch erleben werde.“