Themen liegen auf der Straße
Vor sieben Jahren erfand Klaus Bergmayr den „Querkopf“. Inzwischen verdienen immer mehr Kölner Wohnungs- und Arbeitslose ihren bescheidenen Lebensunterhalt mit dem Verkauf der Zeitung
Von Susanne Gannott
In der Sülzburgstraße gehört der Mann mit dem struppigen grauen Vollbart sozusagen zum lebenden Inventar: Seit über zehn Jahren verkauft Klaus Bergmayr dort neben dem Café Klein seine Zeitungen. Jeden Wochentag von 10 bis 18 Uhr, wenn er sich nicht gerade im Café bei einer Tasse Kaffee aufwärmt. Und auch dort macht er seine Geschäfte: „Die Leute wissen immer, wo ich zu finden bin. Wer seine Zeitung will, kommt hier rein und holt sie sich.“
Überhaupt verkauft Bergmayr eigentlich nur an Stammkunden. Knapp 3.000 Exemplare setzt er nach eigener Aussage im Monat um. Damit dürfte Bergmayr so ziemlich der erfolgreichste Verkäufer des Querkopf sein, der „Arbeits-Obdachlosen Selbsthilfe-Mitmachzeitung“, wie es im Titelkopf heißt. Und noch etwas unterscheidet Bergmayr von anderen Querkopf-VerkäuferInnen, die in Einkaufsstraßen, Kneipen und U-Bahnen nach kaufwilligen Lesern für die Monatszeitung suchen: Er ist der Gründer, Chefredakteur und Hauptautor des Querkopf. Im November 1997 hat er zu Hause am Computer die erste Ausgabe gestaltet. Die Vorgängerzeitung Von Unge war gerade eingegangen und die Verkäufer, alles Langzeitarbeits- und Obdachlose, somit ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Auch Bergmayr hatte lange bei Von Unge mitgearbeitet, im Büro und als Verkäufer, dann aber die Brocken hingeschmissen. „Meine Energie war mir zu schade für dieses Jammerblatt, das nur aus Mitleid gekauft wurde und sofort im Papierkorb landete.“ Als ihn dann der Hilferuf seiner Ex-Kollegen ereilte, stampfte Bergmayr binnen Tagen den Querkopf aus dem Boden. Und um der neuen Zeitung das Schicksal ihrer Vorgängerin zu ersparen, machte er es von Anfang zur Auflage, dass jeder Autor des Querkopf zugleich auch Verkäufer sein müsse.
„So bekommt man unmittelbar mit, was die Leute lesen wollen. Wir greifen Themen auf, die von der ‚normalen‘ Presse stiefmütterlich behandelt werden“, sagt der 60-Jährige und verweist nicht ohne Stolz auf „seine“ Seite 3. Dort schreibt er jeden Monat über das Thema Arbeit, zum Beispiel über das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Sein Anspruch ist, über Dinge zu schreiben, die den meisten bislang unbekannt sind: „Wir machen schließlich eine Zeitung für die Leser.“
Aber natürlich auch für die Verkäufer: Ziel und Zweck der Zeitung ist schließlich, Obdach- und Langzeitarbeitslosen wieder Perspektiven für ein selbstständiges Leben zu geben. „Ein guter Verkäufer muss nicht mehr zum Sozialamt gehen“, sagt Bergmayr. Beim Obdachlosen-Café Gulliver hält man allerdings nicht sehr viel vom Lebensunterhaltverdienen durch Zeitungsverkauf. „Das ist doch reine Abzocke“, sagt ein Mitarbeiter. Schließlich müssten die Obdachlosen die Zeitungen, die sie verkaufen wollen, erst einmal vorfinanzieren. Laut Bergmayr bekommt man allerdings für alle Exemplare, die man nicht verkauft hat, sein Geld zurück. Für ihn ist vor allem wichtig, dass das Vertriebssystem auf Freiwilligkeit und Eigenverantwortung basiert: Jeder, der will, kann sich an den zwei Ausgabestellen in der Stadt für 75 Cent pro Stück mit einer beliebigen Zahl von Querköpfen eindecken. „Und unsere Verkäufer werden immer besser“, hat Bergmayr beobachtet. Ein guter Verkäufer könne 1.000 Zeitungen im Monat verkaufen, würde bei einem Verkaufspreis von 1,50 Euro also 750 Euro verdienen, rechnet er vor. Wie viele Menschen in Köln die monatlich 10.000 Exemplare verkaufen – in Berlin wird eine etwas kleinere Auflage vertrieben –, kann er wegen der Anonymität bei der Ausgabe zwar nicht sagen. „Auf jeden Fall steigt unsere Auflage“, freut sich der Chefredakteur.
Den Gewinn gibt der Verein Querkopf e.V. für Mietzuschüsse seiner Verkäufer aus, zahlt für sie Kautionen und Maklergebühren und kauft bei der KVB die Monatsfahrkarten für jene, die die Zeitung in der Straßenbahn verkaufen. Der Verein mietet auch selber Wohnungen an und untervermietet sie an Wohnungslose – „dann ist es nicht so schlimm, wenn die Miete nicht immer pünktlich kommt“. Auf diese Weise holt Querkopf e.V. laut Bergmayr jedes Jahr fünf bis sechs Leute von der Straße. „Und die Leute sind froh, endlich was für sich selbst tun zu können.“
Die Erfolgsgeschichte des Querkopf hat aber auch eine beunruhigende Seite: Die Nachfrage an den Ausgabestellen ist nämlich auch Indikator für die Zunahme materieller Not. So hat Bergmayr festgestellt, dass jedes Mal, wenn das Sozialamt Gelder kürzt – so wie letztes Jahr im Dezember das Weihnachts- und Kleidergeld –, die Verkaufszahlen sprunghaft ansteigen. „Die Leute müssen ja irgendwie ihren Bedarf decken.“ Für dieses Jahr hat sich der Ober-Querkopf daher schon vorgenommen, im Dezember 3.000 Exemplare mehr zu drucken: „Wegen Weihnachten brauchen die Menschen dann etwas mehr zum leben.“